onkologie

Die Darmbakterien können Krebs fördern, aber auch hemmen

Freitag, 12. November 2021 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana

In der Zeitschrift „Science“ wurde eine wichtige Studie über das Prostatakarzinom veröffentlicht, die von Andrea Alimonti und anderen europäischen Forschern durchgeführt wurde. Den Zusammenhängen zwischen dem „Mikrobiom“ und dem Immunsystem wird eine zunehmend wichtige Rolle zugeschrieben.
von Michela Perrone

In der westlichen Welt ist Prostatakrebs (nach Lungenkrebs) die zweithäufigste Krebsart und eine der häufigsten krebsbedingten Todesursachen. Man schätzt, dass jeder achte Mann im Laufe des Lebens daran erkrankt. Es handelt sich um einen heimtückischen Tumor, denn er ist mit der Produktion des männlichen Hormons Androgen verbunden. Aus diesem Grund sieht die Standardtherapie nach der Operation oder Strahlentherapie eine medikamentöse Behandlung namens Androgendeprivation vor, die darauf abzielt, die Produktion von Testosteron, dem männlichen Hormon, das in den Hoden und Nebennieren gebildet wird, zu hemmen. «Die Patienten sprechen in der Regel gut auf diese Therapie an, und bei etwa der Hälfte lässt sich der Tumor längerfristig gut unter Kontrolle halten», erklärt Andrea Alimonti, Leiter der Forschungsgruppe für molekulare Onkologie am Onkologischen Forschungsinstitut (IOR) in Bellinzona und Professor an der Università della Svizzera italiana. «Allerdings entwickelt der Tumor bei etwa 50 % der Prostatakrebspatienten nach einigen Jahren eine Resistenz und rezidiviert. In diesen Fällen ist es leider schwierig, die Situation in den Griff zu bekommen.»

Neue Hoffnung bietet eine kürzlich durch Alimontis Team in Zusammenarbeit mit dem Institute of Cancer Research in London sowie mit Forschern der Universität Padua und anderer italienischer Universitäten gemachte Entdeckung: Die Experten stellten einen engen Zusammenhang zwischen der Hormonproduktion und der Darmflora fest. Seit Jahren ist bekannt, dass das Mikrobiom (d. h. die riesige Menge an Mikroorganismen, die von Natur aus unseren Darm besiedeln und einen sehr grossen Einfluss auf die für das biologische Gleichgewicht unseres Körpers verantwortlichen Mechanismen ausüben) entscheidend zur „Regulation“ des Immunsystems beiträgt (das Mikrobiom kann also ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen Krebs sein, ihn aber in bestimmten Fällen auch begünstigen). In der von Alimonti und seinen Kollegen in der Zeitschrift Science veröffentlichten Studie wird erstmals ein direkter Zusammenhang zwischen Prostatakrebs und bestimmten Bakterienarten nachgewiesen.

«Wir haben beobachtet, dass die Bakterienflora sowohl bei Mäusen als auch bei Menschen, die eine Resistenz gegen die Androgentherapie entwickelt haben, durch bestimmte Bakterienarten gekennzeichnet ist», so Alimonti. «Insbesondere haben wir festgestellt, dass bei Patienten, die nicht mehr auf die Hormonbehandlung ansprechen, drei Arten von Darmbakterien überrepräsentiert sind.» Es handelt sich dabei um Bakterien, die in unserem Körper natürlich vorkommen, sich aber bei resistenten Patienten übermässig stark vermehren und in der Lage sind, Androgene zu produzieren, die den Tumor „nähren“. «Mithilfe einer ausgeklügelten Untersuchung des Stuhls jener Patienten konnten wir nicht nur die DNA dieser Mikroorganismen rekonstruieren, sondern entdeckten auch, dass es Bakterienarten gibt, die der Aktivität der „schlechten“ Bakterien entgegenwirken und so das Krebswachstum stoppen», fügt Alimonti hinzu.

Die Arbeit des Forschungsteams des IOR hat also zwei positive Auswirkungen: Aus physiologischer Sicht ermöglichte sie die Entdeckung einer weiteren Quelle für die Androgenproduktion beim Mann neben den Hoden und Nebennieren. «Wir haben festgestellt, dass Darmbakterien imstande sind, einen geringen, aber wichtigen Anteil dieser Androgene zu produzieren», betont Alimonti. Aus klinischer Sicht hingegen «untersuchten wir die der Bildung dieser Androgene zugrunde liegenden Mechanismen und stiessen dabei auf die guten Bakterien, die in der Lage sind, der Ausbreitung der schlechten Bakterien entgegenzuwirken».

ZUKÜNFTIGE STUDIEN – Diese Ergebnisse bilden den Ausgangspunkt für zwei klinische Studien, die in Kürze gestartet werden: Die erste sieht bei Patienten mit Prostatakarzinom den Einsatz einer speziellen Antibiotikatherapie vor, mit dem Ziel, zu prüfen, ob es möglich ist, durch Beseitigung der schlechten Bakterien den Androgenspiegel im Blut zu senken und ein Wiederauftreten der Erkrankung zu vermeiden. 

Die zweite Studie zielt hingegen darauf ab, die bisher aus der Stuhluntersuchung gewonnenen Ergebnisse zu validieren. «In der ersten Phase ist es uns gelungen, die schlechten Bakterien mittels Analyse ihrer im Stuhl vorhandenen DNA zu identifizieren und festzustellen, dass diese Spuren des genetischen Codes mit einer negativen Prognose verbunden sind», erklärt Alimonti. «Nun möchten wir diese Ergebnisse anhand einer viel grösseren Patientengruppe bestätigen, und zwar indem wir Menschen mit dieser „genetischen Signatur“ begleiten, um herauszufinden, ob sie eine Resistenz gegen die Therapie entwickeln.»

Es ist ausserdem ein drittes Projekt geplant, für dessen Umsetzung die Forscher noch einen Industriepartner suchen. «Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei um die interessanteste Studie, da den Patienten in deren Rahmen ein Cocktail aus guten Bakterien verabreicht wird, die das Tumorwachstum hemmen können», so Alimonti. Allerdings ist es bis zur kommerziellen Entwicklung eines Produkts, das an Patienten getestet werden kann, noch ein weiter Weg: Dazu ist es nämlich notwendig, die erforderlichen Bakterien in grossen Mengen zu produzieren und deren Sicherheit und Wirksamkeit anhand von Experimenten zu überprüfen. «Zurzeit ist es nur eine Hoffnung. Wir glauben jedoch, dass dieses Projekt mittelfristig realisierbar sein könnte», so Alimonti abschliessend.

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