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Kunst trifft Technik:Die Ausstellung grafischer Werkeaus der grossen ETH-Sammlung

Montag, 9. Oktober 2023 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
Der erste Saal der Ausstellung "Von Albrecht Dürer bis Andy Warhol. Meisterwerke aus der Graphischen Sammlung der ETH Zürich" im Kulturzentrum LAC (Foto: Alberto Celesti)
Der erste Saal der Ausstellung "Von Albrecht Dürer bis Andy Warhol. Meisterwerke aus der Graphischen Sammlung der ETH Zürich" im Kulturzentrum LAC (Foto: Alberto Celesti)

Interview mit Linda Schädler, Kuratorin der Ausstellung "Von Albrecht Dürer bis Andy Warhol", die noch bis zum 7. Januar im LAC zu sehen ist. Gezeigt werden dreihundert Werke aus der Graphischen Sammlung der ETH Zürich
von Valeria Camia

«Bevor ihr Ingenieure seid, seid ihr vor allem Menschen». Der berühmte Satz von Francesco De Sanctis (der während der Eröffnung zitiert wurde) kommt einem in den Sinn, wenn man die Räume der Ausstellung Von Albrecht Dürer bis Andy Warhol. Meisterwerke der Graphischen Sammlung der ETH Zürich betritt, die vom Museo d’Arte della Svizzera italiana (MASI) im LAC in Lugano organisiert wurde. Aus den 160’000 Werken, die eine der bedeutendsten Schweizer Sammlungen von Druckgrafiken und Zeichnungen vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart bilden, wurden 300 Werke ausgewählt, darunter Zeugnisse der grössten europäischen Künstler. Eine Sammlung, die 1867, zwölf Jahre nach der Gründung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), zu Lehrzwecken angelegt wurde und seitdem exponentiell an Umfang gewonnen hat. Das Polytechnikum war eigentlich gegründet worden, um die Konstrukteure der neuen Eisenbahnen, Viadukte und Fabriken auszubilden, aber die Studenten wurden von De Sanctis (dem ersten Professor für italienische Literatur an dem angesehenen Institut) und anderen aufgeklärten Professoren immer wieder daran erinnert, dass man auch einen sehr breiten kulturellen und künstlerischen Hintergrund haben musste, um zu hochgeschätzten Technikern und Wissenschaftlern zu werden.

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Die 300 Werke, die bis zum 7. Januar 2024 im LAC zu sehen sind, werden normalerweise nicht dauerhaft öffentlich ausgestellt, da sie aus sehr empfindlichen Materialien bestehen, wie die Kuratorin der Ausstellung, Linda Schädler, gegenüber Ticino Scienza erklärt. Schädler ist promovierte Kunsthistorikerin, hat mehrere Jahre Berufserfahrung in leitenden Funktionen in grossen Schweizer Kunstmuseen wie dem Kunsthaus Zürich und dem Kunstmuseum Basel gesammelt, ist Dozentin und Kunstkritikerin und leitet seit 2016 die Graphische Sammlung. Und sie ist es, die die Inhalte für die Ausstellung in Lugano ausgewählt hat: «Es war nicht einfach, die Künstler und Werke für die MASI-Ausstellung auszuwählen», sagt sie. «Wir haben versucht, in chronologischer Reihenfolge die wichtigsten Vertreter der schweizerischen und europäischen Kunstgeschichte zu präsentieren, von den grossen Meistern (die einer der Schwerpunkte der Graphischen Sammlung sind) bis zur zeitgenössischen Entwicklung der Kunstdrucke (ich denke dabei an die Arbeiten von Vera Molnár, einer Pionierin der generativen Kunst und der Computerkunst). Unter den Meistern, die in den Kanton Tessin gebracht wurden, sind Albrecht Dürer, Rembrandt van Rijn, Francisco de Goya, Maria Sibylla Merian, Pablo Picasso, Egon Schiele und Edvard Munch. Es gibt auch Werke von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern wie John M Armleder, Olivier Mosset, Candida Höfer, Susan Hefuna, Shirana Shahbazi oder Christiane Baumgartner». 

Frau Schädler, manche mögen sich wundern, dass Kunstwerke wie die von Ihnen erwähnten im Zentralgebäude der ETH Zürich aufbewahrt werden...

«Die ETH hat schon immer», so die Direktorin, «nicht nur den Naturwissenschaften, sondern auch den Geisteswissenschaften besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil die Geisteswissenschaften und insbesondere die Künste als Anregung für die persönliche Bereicherung und für die Entwicklung von visuellen Fähigkeiten, kritischem Denken und kreativen Fähigkeiten angesehen wurden. So hat die ETH seit ihrer Gründung beispielsweise Lehrveranstaltungen zur Kunstgeschichte und Archäologie in die naturwissenschaftlichen Curricula aufgenommen. Es war Gottfried Kinkel, Professor für Archäologie und Kunstgeschichte an der ETH Zürich, der beschloss, die Sammlung für Studien- und Lehrzwecke einzurichten. Das war 1867, zu einer Zeit, in der die Druckgraphik eine wichtige Rolle für das kunsthistorische Wissen in Europa spielte. Dabei handelte es sich meist um Reproduktionen einzelner Kunstwerke, von Gemälden bis hin zu Skulpturen. Diese Reproduktionen von Gemälden und Kunstwerken, die sich leicht über den europäischen Kontinent transportieren liessen, spielten eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung der Kunst, d.h. bei der Bekanntmachung von Kunstwerken für ein breites Publikum. Die Förderung des künstlerischen Wissens - und insbesondere die Erforschung der Herkunft, die Funktion und Bedeutung von grafischen Werken und Techniken im Laufe der Jahrhunderte - wurde an der ETH auch dank verschiedener privater Schenkungen ermöglicht. Ich erinnere an diejenige des Zürcher Bankiers Heinrich Schulthess-von Meiss, der 1894 über 12’000 Blätter von grossem Wert, von Schongauer bis Goya, stiftete».

Heute hat die Sammlung eine beachtliche Anzahl von Druckgrafiken und Zeichnungen erreicht und verfolgt weiterhin die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Kunst auf Papier, auch durch Neuerwerbungen. Inwiefern begünstigt die Zugehörigkeit zu einer technischen Universität die Konfrontation zwischen Kunst und wissenschaftlicher Forschung?

«Die Verankerung in einer vorwiegend naturwissenschaftlich-technisch ausgerichteten Hochschule ist die Stärke der Graphischen Sammlung der ETH Zürich, die häufig Ausstellungen mit interdisziplinärem Ansatz organisiert und über einen Online-Katalog mit über 50’000 Werken verfügt, der für Forschungszwecke nützlich ist und Forschern sowie einem breiten kunstinteressierten Publikum offensteht. Was speziell die Konfrontation zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen betrifft, so sei daran erinnert, dass wir gerade in den letzten zehn bis zwanzig Jahren - jedenfalls hier an der ETH - eine Öffnung der Wissenschaft gegenüber der Kunst erleben, ein Phänomen, das mit einer Rückkehr des Interesses der Künstler an der wissenschaftlichen Methode einhergeht (nach der Trennung der beiden Welten im 19. Jahrhundert). So ist die Sammlung mit ihrer Vielfalt an Themen und Epochen ein bevorzugter Ort für alle, die sich mit Problemen der Darstellung und der wissenschaftlichen Abbildung auseinandersetzen wollen. In diesem Sinne stellt sich die Sammlung dem technischen Fortschritt zur Verfügung, indem sie Fragen aufwirft und neue Perspektiven eröffnet».

Um auf die im LAC ausgestellten Werke zurückzukommen: Können Sie uns einige Beispiele nennen, aus denen der Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft in den vergangenen Jahrhunderten hervorgeht?

«Ich erinnere mich gerne an die bezaubernden wissenschaftlichen Illustrationen der Alpen von Hans Conrad Escher. Der Künstler, dem ich besonders zugetan bin, gilt heute auch als Wissenschaftler: Er studierte Zeichnen und Malen, interessierte sich aber gleichzeitig so sehr für Geologie, dass er Ende des 17. Jahrhunderts mehrere Exkursionen in die Alpen unternahm. Dadurch erwarb er einzigartige Kenntnisse über die geologische Struktur und die Entstehung der Berge. Die Bilder seiner Bergansichten - die Graphische Sammlung der ETH Zürich besitzt rund 700 davon - sind auch aus wissenschaftlicher Sicht sehr genau: Sie zeigen zum Beispiel viele Details und die verschiedenen Namen der gezeichneten Berge und Reliefs. Ein weiteres interessantes Beispiel ist der Text von Maria Sibylla Merian, die zu den führenden Insektenforschern des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zählte. Ende des 16. Jahrhunderts unternahm Merian eine Studienreise in die holländische Kolonie Surinam im Norden Südamerikas und dokumentierte sehr detailliert und präzise die Metamorphose von Raupen zu Schmetterlingen. Ihr 1705 veröffentlichtes Hauptwerk Metamorphosis Insectorum Surinamensium (Metamorphose der Insekten von Surinam) enthält zahlreiche Abbildungen von bemerkenswerter wissenschaftlicher Genauigkeit».

Machen wir einen Zeitsprung in die Gegenwart: Wie geht es mit der Beziehung zwischen Wissenschaftlern und Grafikkünstlern weiter, da unter anderem viele Bilder schnell im Internet und in den sozialen Medien verfügbar sind?

«Ich werde mit zwei Beispielen antworten. Das eine betrifft die Arbeit der zeitgenössischen Künstlerin Irene Kopelman, von der die Graphische Sammlung der ETH Zürich einige Zeichnungen aufbewahrt. Kopelman begleitet immer wieder Wissenschaftler auf ihren Expeditionen zu Gletschern, um zu lernen, bestimmte Strukturen, Veränderungen und Verschiebungen im Eis zu erkennen. Dieses Erlernen des Lesens der Landschaft ist in den Werken der Künstlerin spürbar, auch wenn eine künstlerische Interpretation dieser Landschaft stattfindet. Ein weiteres Beispiel für die fruchtbare Beziehung zwischen Künstlern und Wissenschaftlern sind die Zeichnungen von Johann Caspar Wolff, die auf die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgehen. Auch im Zeitalter des Internets und der sozialen Medien werden Caspar Wolffs grafische Studien der Alpenwelt und seine Zeichnungen, die die Natur objektiv erfassen, heute von Geologen als verlässliche Quellen zur Überwachung der Veränderungen unserer Gletscher genutzt».