Integrated Vector Management

Die (auch in die Deutschschweiz exportierte) Tessiner „Methode“zur Bekämpfung von Tigermücken

Samstag, 25. Juni 2022 ca. 9 Minuten lesen In lingua italiana

Seit Mitte Mai überwachen die Techniker der SUPSI (Fachhochschule Südschweiz) in Zusammenarbeit mit 85 Gemeinden die Anzahl der von den Stechmücken in den Gullys abgelegten Eier und setzen zu deren Bekämpfung ein biologisches Insektizid ein. Die Zahl der Stechmücken wurde um das Vierfache reduziert
von Michela Perrone

Eine erfolgreiche Bekämpfung der Ausbreitung der Tigermücke erfordert die Anwendung wissenschaftlicher Methoden – im wahrsten Sinne des Wortes – sowie eine äusserst sorgfältige und (man könnte sagen) hartnäckige Vorgehensweise. Das Tessin nimmt hierbei eine Vorreiterrolle ein und hat als erster Kanton des nationalen Überwachungsnetzwerks seine Methode mithilfe der SUPSI in andere Schweizer Kantone exportiert. Wie bereits erwähnt, sind wissenschaftliche Kriterien erforderlich, die in der „Wasserphase“ des Lebenszyklus der Stechmücken (d. h. in jener Phase, in der die Larven aus den in wässrigem Milieu abgelegten Eiern schlüpfen) angewendet werden müssen. Es genügt also keineswegs, wie es in anderen Teilen Europas der Fall ist, ohne Kontinuität und umfassende Überwachung ein paar Mal Insektizide (die unter anderem sehr nützliche Insekten, angefangen bei den Bienen, vernichten) einzusetzen, in dem Bestreben, die bereits erwachsenen Stechmücken abzutöten (ein wirklich schwieriges Unterfangen...).

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Die Tessiner Methode, die auch dieses Jahr wieder pünktlich ab Mitte Mai, wenn der (äusserst kraftvolle!) Lebenszyklus der Tigermücken wieder in vollem Gang ist, zum Einsatz kam, kann in der Fachsprache als Integrated Vector Management (IVM) bezeichnet werden. Doch worin genau besteht diese Methode? «Seit mehr als zwanzig Jahren – so Eleonora Flacio, Koordinatorin der Abteilung für Vektorökologie am Institut für Mikrobiologie der SUPSIsetzen wir spezielle Fallen für die Eier der Tigermücke ein (es handelt sich um besondere Stäbchen zur Erleichterung der Eiablage), um zu überprüfen, wo und in welcher Anzahl (Anzahl der Eier) sich die Stechmücke angesiedelt hat. Auf der Grundlage dieser Bewertungen geben wir dann eine angemessene Menge eines besonderen biologischen Insektizids in die im Gully vorhandene Wasserschicht (ein für die Tigermücke wesentliches Element): Es handelt sich um Körner mit einer Reihe von Bakterien, die in der Lage sind, bestimmte Proteine zu produzieren, welche, nachdem sie von den Larven der Tigermücke (aber nicht von anderen Insekten) aufgenommen wurden, deren Darmwand durchbohren, um sie abzutöten. Dieses Verfahren wird unter unserer Koordination jedes Jahr von Mai bis Ende September regelmässig von den Gemeinden in den öffentlichen Gullys durchgeführt

Aber auch die Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, im Rahmen des IVM ihren Beitrag zu leisten, und zwar, indem sie jegliche Wasseransammlungen in Gärten, Höfen und auf Balkonen vermeiden oder – falls dies nicht möglich ist – in regelmässigen Abständen ein biologisches Insektizid einsetzen. Der Insektizideinsatz muss gemäss den auf der Webseite www.supsi.ch/go/zanzare der SUPSI veröffentlichten oder in jenen Broschüren enthaltenen Anweisungen erfolgen, die von den Gemeinden vor Beginn der Sommersaison an die Bürgerinnen und Bürger verteilt werden. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass diese Massnahmen von Mai bis September wöchentlich durchgeführt werden.

Durch die Kombination öffentlicher und privater Massnahmen (im Hinblick auf Gullys und Aussenbereiche von Wohngebäuden) kann die Zahl der Tigermücken im Tessin fast um das Vierfache reduziert werden. Es wurde ein Vergleich mit einigen italienischen, sehr nahe an der Schweizer Grenze liegenden Gemeinden (in einem Umkreis von 7 Kilometern) vorgenommen, in denen diese Massnahmen nicht durchgeführt werden. Die Ergebnisse wurden im vergangenen Jahr in der wissenschaftlichen Zeitschrift Parasites & Vectors veröffentlicht.

Die Populationsdichte (wie es in der Fachsprache heisst) der Tigermücke wurde dank des verstärkten Engagements der Bürgerinnen und Bürger, die während der beiden Pandemiejahre gezwungen waren, zu Hause zu bleiben, weiter reduziert (um 68 % im Jahr 2021 im Vergleich zu 2019). «Die Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger – fügt Eleonora Flacio hinzu – ist also von entscheidender Bedeutung!»

Die Tessiner Methode wird vom Team der Abteilung für Vektorökologie der SUPSI koordiniert, das aus mehr als 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besteht. «Die Zahl der zu überwachenden Gullys ist inzwischen so hoch, dass wir uns nicht mehr allein um das Monitoring kümmern können», erklärt der wissenschaftliche Mitarbeiter Diego Parrondo. «Die Fallen werden alle zwei Wochen von den Gemeindebediensteten, die auch die Behandlungen durchführen, betreut (wir hingegen werten die Daten aus). Wenn selbst die kommunalen Kräfte nicht ausreichen, wird der Zivilschutz herangezogen.» Derzeit betreffen die Monitoringmassnahmen und die Verteilung des biologischen Insektizids im Tessin 80-90 % der sogenannten bebauten Fläche (d. h. des städtischen Raums) und umfassen 85 Gemeinden. Im Vergleich zu vor einigen Jahren hat sich dieses Gebiet zeitgleich mit dem „Vormarsch“ der Tigermücke, die in den 1990er Jahren nach Italien kam und sich seit Anfang 2000 auch in der Schweiz etabliert hat, erheblich ausgedehnt.
Die Tessiner Forscher machten sich sofort auf die Suche nach entsprechenden Massnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Insekts. «Wir begannen im Jahr 2000 mit der Überwachung der Eintrittspforten, d. h. der Autobahnen, um uns anschliessend auf verkehrsreiche Gebiete wie Industriegebiete und grosse Parkplätze zu konzentrieren», bestätigt Eleonora Flacio.
Damals hatte die Stechmücke, nachdem sie einige Jahre zuvor in Genua und Padua in Altreifenlagern gesichtet worden war, begonnen, Norditalien zu besiedeln, indem sie sich vor allem über den von Autos und Lastwagen angebotenen passiven Transport ausbreitete. «Das Tessin liegt an der wichtigsten Verbindungsachse zwischen Süden und Norden, der Autobahn A2», so Flacio. «Wir wussten, dass die Tigermücke früher oder später auch hier Einzug halten würde.»

Im Jahr 2007 begannen die Forscher, auch den städtischen Raum zu überwachen. Seit 2009 werden die Gemeinden direkt in die Überwachungs- und Kontrollmassnahmen miteinbezogen. Diese ursprünglich in tropischen und subtropischen Gebieten beheimatete Stechmückenart findet in gemässigten Klimazonen ihren idealen Lebensraum, wie bereits erwähnt, in mit Wasser gefüllten künstlichen Behältern. 

Aus einer einzigen Stechmücke können sich bei optimalen Umgebungsbedingungen ohne das Eingreifen des Menschen Tausende von Stechmücken entwickeln. Wie ist das möglich? Die Berechnung ist ziemlich einfach: «Jedes Mückenweibchen – erklärt Diego Parrondo – legt im Durchschnitt etwa sechzig Eier, aus denen Stechmücken schlüpfen, die innerhalb einer Woche, d. h. nach Abschluss der Wasserphase, das Erwachsenenstadium erreichen. Die Hälfte davon sind Weibchen, die wiederum innerhalb einer Woche weitere Weibchen produzieren und so weiter und so fort. Wenn man noch dazu davon ausgeht, dass jedes Weibchen bis zu fünf Eiablagezyklen durchläuft, ist die Zahl der produzierten Stechmücken enorm.» 

Zu bedenken ist auch, dass die Tigermücke in städtischen Gebieten so gut wie keine natürlichen Feinde hat und sich daher ungestört vermehren kann, wenn der Mensch nicht eingreift. In ihren Brutstätten (kleine Wasseransammlungen in Blumenuntersetzern, Regentonnen usw.) gibt es in der Tat keine Fressfeinde der Mückenlarven. Selbst für flugfähige bzw. erwachsene Tigermücken gibt es nur wenige Feinde: ein paar Spinnen und Vögel, aber sicherlich keine Fledermäuse, die im Gegensatz zu den tagaktiven Tigermücken nachtaktiv sind.

Es stechen nur die weiblichen Mücken. Sie benötigen unser Blut, da es die für die Entwicklung der Eier erforderlichen Proteine enthält. Hinzu kommt, dass Tigermücken kleiner sind als klassische Stechmücken und auch aus diesem Grund mehrfach stechen müssen (sie haben ein geringeres „Fassungsvermögen“). Eben aufgrund dieser Notwendigkeit, mehrfach „zuzustechen“ – unter anderem bei verschiedenen Menschen – sind sie potenziell in der Lage, bestimmte Arten pathogener Viren zu übertragen: insbesondere Dengue-, Chikungunya-, Gelbfieber- und Zika-Viren. Die entsprechenden, für Europa untypischen Krankheiten werden jedes Jahr durch Reisende eingeschleppt und in der Folge möglicherweise von einheimischen Tigermücken übertragen. Bisher hat das (auf spezifischen Behandlungen beruhende) Warn- und Präventionssystem, für das die SUPSI zusammen mit dem Kantonsarztamt (Warnsystem für Ansteckungsfälle mit den oben erwähnten Krankheiten) verantwortlich ist, keine Fälle von Krankheitsübertragung durch einheimische Tigermücken festgestellt.

DIE GENETISCHEN STRATEGIEN – Neben diesen sich auf das reale Leben beziehenden und deshalb als „Feldverfahren“ bezeichneten Verfahren werden in internationalen Labors viele andere Lösungen erprobt. «Die meisten von ihnen stehen im Zusammenhang mit Gen-Editing-Verfahren, die in die DNA der Insekten eingreifen», erklärt Flacio. «Es handelt sich um Massnahmen, die sich zwar im Labor als teilweise wirksam erwiesen haben, aber noch nicht praxisbewährt sind.»
Eine Option, die derzeit an der SUPSI geprüft wird, betrifft sterile Männchen: «Gemeint sind Mückenmännchen, deren Fruchtbarkeit durch Bestrahlung gehemmt wird. Es handelt sich um ein potenziell wirksames Verfahren, da die Mückenmännchen auf die Suche nach den Weibchen gehen und es somit ermöglichen, Orte zu erreichen, die für „klassische“ Behandlungen nur schwer zugänglich sind.» Diese Lösung findet zurzeit in vielen Teilen der Welt Anwendung (noch nicht in der Schweiz), hat jedoch aufgrund der sehr hohen Produktionskosten noch einen experimentellen Charakter. «Sobald die Wirksamkeit dieses Verfahrens bestätigt ist, gilt es zu prüfen, ob es industrialisiert werden kann, um es auf breiter Ebene einzusetzen», so die Forscherin.

Das (bereits erwähnte) Integrated Vector Management ist ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, oder besser gesagt für die sogenannte „Citizen Science“ bzw. die Bürgerwissenschaft, in der der einzelne Mensch eine wichtige Rolle einnimmt. «Damit die Bürgerinnen und Bürger auf ein Problem reagieren, müssen sie es als solches wahrnehmen», so Flacio. «Im Tessin hat wohl jeder schon von der Tigermücke gehört, und die Bürgerinnen und Bürger haben vor allem seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 hervorragend reagiert, indem sie die richtigen Produkte zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt haben. Die Folge war ein deutlicher Rückgang der Tigermückenpopulation in diesem Gebiet. Dies ist für uns ein ausgezeichnetes Ergebnis. Wir hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger, auch wenn sie sich wieder frei bewegen können, diese bewährten Praktiken fortsetzen werden, denn ihre Mitarbeit ist für die wirksame Bekämpfung der Tigermücke unbedingt erforderlich.»
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Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite 
www.supsi.ch/go/zanzare.