BILANZ

Covid-19, so umgibt uns
seit vielen Monaten der „Lärm“
der konfus erhobenen Daten

Dienstag, 26. Oktober 2021 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana

Im Gespräch mit Clelia Di Serio, Professorin für Biostatistik an der USI, Referentin eines Symposiums, das von der Stiftung Fondazione Sir John Eccles auf dem Monte Verità (Ascona) organisiert wurde
von Elisa Buson

«Wie viele Infizierte gibt es heute?» So lautet die häufigste Frage, die wir uns seit Beginn der Pandemie stellen. Corona hat nicht nur unser Leben auf den Kopf gestellt, sondern uns auch süchtig nach Zahlen gemacht: nach jenen der Berichte der Gesundheitsbehörden, jenen zur Erprobung von Impfstoffen und antiviralen Medikamenten, und jenen zur schleppenden Entwicklung der Wirtschaft. Zeitungen, Fernsehsendungen sowie der Hinterhofklatsch waren plötzlich durch eine Fülle von Daten gekennzeichnet, an die wir uns im mühsamen Bestreben, dieser nie zuvor dagewesenen Situation einen Sinn zu geben, klammerten. Doch sind wir nun wirklich besser informiert? Clelia Di Serio, Professorin für Biostatistik an der Università della Svizzera italiana (USI) und der Università Vita-Salute San Raffaele in Mailand, teilt diese Ansicht nicht. Sie war eine der Protagonistinnen des Symposiums «Molto rumore per nulla?» (dt. «Viel Lärm um nichts?»), das im Auditorium am Monte Verità in Ascona veranstaltet und von der Stiftung Fondazione Sir John Eccles initiiert wurde.

«Der Datenlärm, genauer gesagt das Datenrauschen, ist uns Biostatistikern seit jeher ein Begriff: Wir bezeichnen damit alles, was nicht gemessen wird, aber in den Daten enthalten ist und einen Störfaktor darstellt, der den Zugang zu wichtigen Informationen erschwert», erklärt Di Serio. «Nehmen wir beispielsweise das, was im Rahmen der Corona-Pandemie geschehen ist. Jeden Tag wurden wir mit riesigen Mengen von Daten konfrontiert, die jedoch von geringer Qualität waren, da sie in einer Notsituation mit zu jener Zeit noch unausgereiften Datenerfassungssystemen erhoben wurden: Jedes Land, jedes einzelne Krankenhaus oder Forschungszentrum speicherte die erfassten Daten in Archiven, ohne sie auszutauschen, da keine Plattformen und Standards für den Datenaustausch zur Verfügung standen.» Oft konnten dieselben Zahlen aufgrund ihres unterschiedlichen Informationsgehalts nicht einmal miteinander verglichen werden: «Man denke zum Beispiel daran – so Di Serio weiter –, dass Covid-19-Patienten in einigen Ländern nach zwei negativen Abstrichen als genesen galten, während in anderen Ländern eine Woche ohne Symptome ausreichte.» Dies löste eine Flut widersprüchlicher Zahlen aus, die, angefangen bei den Journalisten bis hin zu den einzelnen Bürgern, niemanden verschonte. Dieses Phänomen bezeichnet die Expertin ironisch als «Datenbullismus», «da die Menschen buchstäblich mit Daten schikaniert wurden, die nicht richtig interpretiert und aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen wurden. So kam es also, dass wir uns alle gezwungen sahen, uns erstmals mit hochkomplexen Begriffen und Konzepten wie „Infektionsinzidenz“, „Infektionsprävalenz“ oder „Impfstoffwirksamkeit“ auseinanderzusetzen. Diese Themen sind normalerweise Gegenstand von Universitätskursen zur medizinischen Statistik, werden aber in den Medien fälschlicherweise als einfache Begriffe und Themen dargestellt, die sich für einen Small Talk in der Kaffeepause oder beim Schlangestehen im Supermarkt eignen.»

Es gibt noch viel zu tun, um diesen «Hintergrundlärm» loszuwerden, insbesondere im klinischen Bereich und im Gesundheitswesen. «Krankenhäuser und Forschungsinstitute sind zum Beispiel noch immer nicht zur Einrichtung eines Rechenzentrums zur zentralen Datenerfassung verpflichtet, wie es hingegen in den Vereinigten Staaten bereits vor 20 Jahren gang und gäbe war, als ich an der Johns Hopkins University studierte», bemerkt Di Serio. In Europa wird heutzutage alles der freien Initiative der einzelnen Einrichtungen überlassen, was die Gefahr mit sich bringt, dass die Vorteile von Big Data verlorengehen. «Wenn es elektronische Patientenakten gäbe, die sowohl Hausärzten als auch Krankenhausfachärzten zur Verfügung stünden, um Daten routinemäßig und nicht nur im Krankheitsfall zu sammeln, könnte man die Früherkennung von Krankheiten und Krankheitsausbrüchen verbessern und auf diese Weise Ressourcen einsparen und vermeiden, dass es in Notfällen zu einer Überlastung der Krankenhäuser kommt», betont die Biostatistikerin. 

In allen europäischen Ländern besteht diesbezüglich ein erheblicher Nachholbedarf. Das Tessin steht jedoch zum Glück relativ gut da, was der Vernetzungsarbeit des Tessiner Spitalverbunds Ente Ospedaliero Cantonale (EOC), der verschiedene Gesundheitseinrichtungen unter einem Dach zusammengeführt hat, zu verdanken ist. Di Serio zufolge hat dieser neue Ansatz bereits während der Pandemie Früchte getragen: «Wir konnten nämlich qualitativ hochwertige, wenngleich nicht riesige Datensätze sammeln, die uns geholfen haben, wissenschaftliche Rätsel zu lösen, mit denen hingegen andere Länder mit größeren Datenbanken zu kämpfen hatten. Das wichtigste der von uns erzielten Ergebnisse ist, dass nun definitiv geklärt ist, dass blutdrucksenkende Medikamente das Risiko für eine Covid-19-Erkrankung nicht erhöhen, sondern sogar eine schützende Wirkung haben: das genaue Gegenteil dessen, was man zunächst aufgrund der auf das Alter der untersuchten Patienten zurückzuführenden Störwirkung angenommen hatte.»

Eine weitere Verbesserung der Datenerhebung und -analyse erfordert jedoch eine verstärkte Investition in Humankapital sowie in die Ausbildung neuer Statistiker. «Sowohl im Tessin als auch im restlichen Europa sind wir eine kleine Gruppe, sozusagen vom Aussterben bedrohte „Pandas: Es ist schwierig, neue Mitarbeiter zu rekrutieren und kein Zufall, dass die Pharmaunternehmen hochattraktive Stellenangebote ausschreiben, um die wenigen Hochschulabsolventen zu werben», erklärt die Expertin. «Unser Beruf ist zwar einer der zukunftsträchtigsten, aber junge Leute tun sich oft schwer, zu verstehen, welche Berufsaussichten das Studium bietet. Hier im Tessin wird die Herausforderung darin bestehen, ein Doktoratsstudium im Bereich der Biostatistik anzubieten: Mit diesem Ziel vor Augen arbeiten wir an der USI bereits daran, Synergien und gemeinsame Programme mit in- und ausländischen Universitäten zu entwickeln.»

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