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Auch im Tessin ein Zentrum für Betroffene von seltenen Krankheiten

Samstag, 27. Februar 2021 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana

Ein neuer Service, der vom Neurocentro (Neurozentrum) und vom Istituto pediatrico della Svizzera italiana (Institut für Pädiatrie der Italienischen Schweiz, EOC) angeboten wird. Mehr als 7.000 Tessiner sind von solchen Krankheiten, die häufig mit schweren Problemen einhergehen, betroffen. Interview mit Alain Kaelin
von Elisa Buson

Die Hoffnung hat jetzt einen Namen: CMRSI, Centro malattie rare della Svizzera italiana (Zentrum für Seltene Krankheiten der Italienischen Schweiz). Es besteht erst seit wenigen Wochen, setzt sich aber das Ziel, Anlaufstelle für über 7.000 Tessiner zu werden, die an einer seltenen Krankheit leiden und häufig gezwungen sind, auf der Suche nach einer sicheren Diagnose und einer Unterstützung für die Bewältigung der Alltagsprobleme im Dunkeln tappen. 

Das Zentrum unter der Schirmherrschaft des Ente Ospedaliero Cantonale (EOC) vernetzt das Neurocentro della Svizzera italiana (NSI) in Lugano, Anlaufstelle für erwachsene Patienten, mit dem Istituto pediatrico della Svizzera italiana (IPSI) in Bellinzona für Patienten im Kindesalter. «Die Aufteilung auf die beiden Institute ermöglicht eine bessere Versorgung der Patienten», erklärt Alain Kaelin, medizinischer und wissenschaftlicher Leiter des Neurocentro und ordentlicher Professor an der Fakultät für biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI). Er hat das Projekt des CMRSI gemeinsam mit Gian Paolo Ramelli des IPSI geleitet. «Wir haben das Zentrum praktisch ohne Kosten geschaffen, – so Kaelin – indem wir die bereits bestehende Organisation und vorhandene Kompetenzen nutzen: Wir wollten es von Anfang an aus eigener Kraft stemmen, was sich jetzt durch die pandemiebedingten Einschnitte der Ausgaben für das Gesundheitswesen als umso wichtiger erweist». 

Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern Alain Kaelin, medizinischer und wissenschaftlicher Leiter des Neurocentro
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Die offizielle Anerkennung durch die Nationale Koordination Seltene Krankheiten Kosek erwarten wir im Frühjahr, wenn ein Symposium über seltene Krankheiten und eine Kommunikationskampagne die Aufnahme des vollen Betriebs einläuten. «Derzeit werden die Patienten von der Associazione malattie genetiche rare (Verein für seltene genetische Krankheiten) an uns verwiesen – so Kaelin weiter – aber wenn der Betrieb erstmal auf vollen Touren läuft, werden wir auch die Hausärzte detailliert informieren. Wir rechnen mit der Aufnahme von ca. 20 Patienten jährlich zur Erstellung der Diagnose».

Die Kontaktaufnahme mit dem CMRSI erfolgt über den behandelnden Arzt oder über den Betroffenen. «Sie können direkt mit dem Koordinations-Pflegepersonal sprechen, das zunächst bewertet, ob der Antrag auf soziale Assistenz gestellt werden soll – erläutert Kaelin. – Hat der Patient bereits eine Diagnose, wird der Kontakt zu einem Zentrum oder Experten, speziell für seine Krankheit, hergestellt. Sind hingegen noch Abklärungen erforderlich, übernimmt ein fachübergreifendes Team aus Spezialisten des CMRSI die Versorgung und veranlasst das Procedere für die Stellung der Diagnose. Anschliessend wird der Patient an ein Fachzentrum überwiesen».

Auf der Welt gibt es schätzungsweise zwischen 6.000 und 8.000 seltene Krankheiten, also nicht übliche Krankheiten (die mit einer Häufigkeit von weniger als 5 Fällen pro 10.000 Einwohner auftreten), die eine Todesgefahr oder das Risiko chronischer Invalidität bergen. Es mögen scheinbar kleine Zahlen sein, aber 7 Schweizer von 100 sind von seltenen Krankheiten betroffen. «Auch wenn es sich um sehr unterschiedliche Krankheiten handelt, haben sie eines gemeinsam: Die enormen Schwierigkeiten der Patienten, eine Diagnose zu erhalten und dass das eigene Gesundheitsproblem von der Welt der Arbeit und den Krankenversicherungen anerkannt wird», kritisiert Kaelin. «Viele Länder haben in den letzten zehn Jahren erkannt, dass hier eine Lücke geschlossen werden muss: Zum Glück ändert sich etwas auch in der Schweiz».

Den ersten Schritt machte vor allem die Zivilgesellschaft mit der Gründung der Associazione Malattie Genetiche Rare della Svizzera italiana 2014, die den Betroffenen und ihren Familien Beratung und Hilfe auch hinsichtlich Schule, Arbeit, Bürokratie, sozialem und finanziellem Bedarf bietet. Ein wichtiges Signal kam dann von der wissenschaftlichen Gemeinschaft, als die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften eine Definition des Begriffs «seltene Krankheit» für die Schweiz erarbeitet hat.

2016 machten auch die Institutionen einen Riesenschritt. Tatsächlich hat der Bundesrat einen Nationalplan verabschiedet, der vier wesentliche Massnahmen vorsieht: Die Einrichtung von Fachzentren für seltene Krankheiten, die Garantie des Zugangs zu diagnostischen Untersuchungen und Therapien und der Kostenübernahme, die Unterstützung und Einbindung der Patientenverbände und schliesslich die Förderung von Forschung und Ausbildung. «Leider gab es bei der Umsetzung des Plans Verzögerungen, auch weil die Eidgenossenschaft keine Geldmittel zur Verfügung gestellt hat und die Kantone somit selbst tätig werden mussten: Oft sind die Zentren nur durch die direkte Investition der Universitätskrankenhäuser entstanden», berichtet Kaelin.

Bisher hat die Nationale Koordination Kosek sechs Zentren für seltene Krankheiten anerkannt, die als erste Kontaktstelle für Patienten noch ohne Diagnose gedacht sind: Sie befinden sich alle ausserhalb der italienischen Schweiz, genauer gesagt in Genf, Lausanne, Zürich, Bern, Basel und Sankt Gallen. Zunächst hatte man das Tessin bei der Verabschiedung des Nationalplans buchstäblich vergessen in der Annahme, die dortigen Patienten mit seltenen Krankheiten könnten sich an die Zentren in Zürich und Lausanne wenden. Dann allerdings wurde das Thema neu aufgerollt: Die Auflehnung der Ärzte und Patienten hat für einen Richtungswechsel gesorgt, dank der Stellungnahme des Ente Ospedaliero Cantonale mit der SUPSI (Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana) und des Istituto di Ricerca in Biomedicina (Forschungsinstitut für Biomedizin) mit Maurizio Molinari, «dem Pionier, der den Zug in Bewegung gesetzt hat», betont Kaelin.

Mit der Einrichtung des CMRSI wurde nun sicher ein bedeutender Meilenstein erreicht, aber am Ziel sind wir noch nicht. Das nächste Ziel, so Kaelin abschliessend, «wird die Einrichtung eines Registers der Betroffenen seltener Krankheiten in der italienischen Schweiz, da das vom Plan des Bundesrats vorgesehene nationale Register noch nicht existiert».

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Alain Kaelin
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