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Ein Archiv zur Bekanntmachung der intensiven (und stetig zunehmenden) Forschungstätigkeit im Tessin

Freitag, 9. Juni 2023 ca. 9 Minuten lesen In lingua italiana
Eines der Plakate der Kampagne „Una scienza fatta di persone“ (dt. „Wissenschaft wird von Menschen gemacht“) an der Seepromenade von Lugano (Foto: Chiara Micci / Garbani)
Eines der Plakate der Kampagne „Una scienza fatta di persone“ (dt. „Wissenschaft wird von Menschen gemacht“) an der Seepromenade von Lugano (Foto: Chiara Micci / Garbani)

Eine Initiative unserer Website. Bislang wurden Einträge zu 1.300 Forschenden veröffentlicht. Fokus auf Life Sciences: ein Bereich, in dem es kürzlich zur offiziellen Gründung eines neuen „Kompetenzzentrums“ kam
von Paolo Rossi Castelli

Wie viele Menschen sind im Tessin in der wissenschaftlichen Forschung tätig? Es gibt weder eine entsprechende statistische Erhebung noch ein offizielles Verzeichnis, obwohl dieser Bereich (insbesondere die sogenannten „harten“ Wissenschaften: Biologie, Chemie, Medizin, Informatik usw.) in unserem Kanton zunehmend an Bedeutung gewinnt, und zwar sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht. Daher ist es schwierig, genaue Zahlen zu ermitteln. Es wäre jedoch wichtig, eine Übersicht über die zahlreichen Initiativen des öffentlichen Sektors und der Privatwirtschaft zu erstellen. Dies würde zudem zur besseren Information der Bürgerinnen und Bürger beitragen, die nur teilweise über die Entwicklungen im Tessiner „Science Valley” (nennen wir es so...) im Bilde sind.

Das in den vergangenen Wochen auf unserer Website eingerichtete Archiv kann diesbezüglich Abhilfe schaffen. Es ist über ein eigenes Fenster auf der Homepage (oder über das Menü) zugänglich und kann kostenlos eingesehen werden. Es handelt sich um ein laufendes Projekt, das in den kommenden Monaten abgeschlossen werden soll. Dieses Archiv enthält bereits etwa 1.300 Namen von Forschenden, die im Kanton tätig sind (hauptsächlich im biomedizinischen Bereich) und seit 2020 mindestens eine wissenschaftliche Arbeit veröffentlicht haben (bisher wurden insgesamt mehr als 2.300 Studien katalogisiert). Diese Zahl wird im Laufe der „Bestandsaufnahme“ noch weiter steigen. Die einzelnen Einträge umfassen die Fachgebiete der jeweiligen Forschenden, ihre Publikationen sowie die damit verbundenen Schlüsselwörter und ihr „Netzwerk“ von im Kanton tätigen Kolleginnen und Kollegen. Diese Einträge wurden sogar auf Anfrage von Wikimedia Schweiz (der Non-Profit-Organisation, die zusammen mit den „Schwestergesellschaften“ anderer Länder Wikipedia betreibt) in das riesige, frei zugängliche Archiv Wikidata aufgenommen, das von Wikimedia selbst geschaffen wurde.

Das Archiv von Ticino Scienza bietet ausserdem eine Übersicht über die verschiedenen Kernbereiche der Tessiner Forschung: darunter in erster Linie die Biomedizin, aber auch die künstliche Intelligenz (und andere Zweige der Informatik) sowie Sonnenforschung, Alpenforschung und Material- und Technologieforschung. Für jeden Forschungsbereich sind die in unserer Region ansässigen Institute sowie die Namen der jeweiligen Direktoren und der Leitenden der Forschungsgruppen aufgelistet. 

Einige ihrer Gesichter (sowie die anderer Vertreter der Tessiner Forschungsszene) wurden von den Fotografen Alberto Chollet und Alfio Tommasini sowie von den Fotografinnen Loreta Daulte und Marian Duven porträtiert. Anschliessend wurde jedes dieser Gesichter in ein Plakat mit dem Slogan „Wissenschaft wird von Menschen gemacht“ verwandelt, das nun die Strassen und Plätze des Zentrums von Lugano ziert (die Plakate werden vom 24. bis 30. April zu sehen sein). Das Ziel dieser noch nie dagewesenen Kampagne? Eine äusserst wichtige, aber noch wenig bekannte Präsenz (nämlich die der Forschenden) „in die Stadt“ zu bringen.

Wie bereits erwähnt, handelt es sich um einen besonders dynamischen Bereich, in dem sich die Nachrichten über neue Initiativen oft überschlagen. Die jüngste Meldung der letzten Tage betrifft die bevorstehende Eintragung des Verbands, der im Rahmen des Projekts Switzerland Innovation Park das Kompetenzzentrum für Life Sciences leiten wird, ins Handelsregister. Das neue Zentrum wurde auch am 25. April in Basel im Rahmen des Swiss Biotech Day, der wichtigsten jährlichen Veranstaltung der Schweizer Biotech-Branche, präsentiert. Der Verband, der dieses Zentrum leiten wird, setzt sich aus den wichtigsten öffentlichen Tessiner Forschungseinrichtungen (USI, SUPSI, EOC und Bios+), der Stadt Bellinzona sowie aus folgenden Unternehmerverbänden zusammen: Pharma-Dachverband Farma Industria Ticino (FIT) und Industrieverband Associazione Industrie Ticinesi (AITI). Es haben sich jedoch auch einige Privatunternehmen angeschlossen, und es werden noch mehr werden. Als Präsident wurde Giorgio Calderari gewählt, der viele Jahre – bis 2022 – den Dachverband FIT leitete und nun überparteilich agieren soll. «Es geht um eine wichtige Initiative, die darauf abzielt, ein vollwertiges neues Forschungszentrum zu schaffen», so Piero Poli, der derzeitige Präsident von FIT. «Der Sitz wird sich vorerst im vierten Stock des ehemaligen Gebäudes des Forschungsinstituts für Biomedizin IRB in der Via Vela in Bellinzona befinden, soll aber in Zukunft auf das Gelände der ehemaligen SBB-Werkstätten (Officine) verlegt werden». Wie wird dieses Zentrum funktionieren? «Es wird ein „Cluster“ sein – fährt Poli fort –, d. h. eine Reihe von Unternehmen und wirtschaftlichen Aktivitäten, die Kompetenzen, Technologien und Ressourcen gemeinsam nutzen, um hochinnovative Projekte zu realisieren, die für alle gewinnbringend sind. Das erste Projekt wird sich mit der Herstellung von biologischem Gewebe befassen, einem Bereich, in dem der Tessiner Spitalverbund Ente Ospedaliero Cantonale (EOC) bereits über ein hochmodernes Labor verfügt, das von Professor Matteo Moretti geleitet wird.» Dieses Gewebe wird mithilfe verschiedener Systeme (genetisch veränderter Zellen, Trägermaterialien und 3D-Druck) hergestellt und weist Eigenschaften auf, die denen des menschlichen Gewebes sehr ähnlich sind. Es wird beispielsweise möglich sein, nicht nur neue Medikamente ohne Tierversuche zu testen, sondern auch zuverlässigere Ergebnisse zu erzielen: eine sehr vorteilhafte Möglichkeit für die gesamte Tessiner Pharma-Lieferkette. Es werden weitere Projekte folgen. Es müssen zwar noch die Finanzierungsmodalitäten festgelegt werden (nach dem Vorbild des Switzerland Innovation Park sollen auch öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt werden, und zwar zu 50 %), aber die „Maschinerie“ des Zentrums wurde nach einigen Jahren der Vorbereitung in Gang gesetzt, womit der schwierigste Teil geschafft ist.

«Die Biowissenschaften – bestätigt Staatsrat Christian Vitta – spielen im Tessin eine sehr bedeutende Rolle und sind ein wichtiger Bestandteil unserer Wirtschaft. Dank der Präsenz weltweit renommierter Spitzenforschungsinstitute einerseits und andererseits zahlreicher innovativer Unternehmen, die sowohl im Tessin als auch auf dem internationalen Markt erfolgreich tätig sind, nimmt unser Kanton nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene eine zunehmend wichtige Position im Bereich der Biowissenschaften ein. Der Kanton setzt daher mit Entschlossenheit auf die Vernetzung der akademischen und wirtschaftlichen Kompetenzen: Dies ist einer der Eckpfeiler der Entwicklungsstrategie, die darauf abzielt, die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Welten zu fördern. Diese Art der Zusammenarbeit bildet unter anderem die Grundlage für den Switzerland Innovation Park Tessin, der derzeit das Kompetenzzentrum für Drohnen in Lodrino, das Lifestyle-Tech-Zentrum in Lugano und das neue Kompetenzzentrum für Biowissenschaften umfasst. Durch die Gründung des Letzteren – so Vitta weiter – erfährt der Bereich der Biowissenschaften einen weiteren wichtigen Impuls, der das Tessin zu einem echten Referenzzentrum auf diesem Gebiet macht und damit automatisch zur Attraktivität unseres Kantons beiträgt». 

Eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Biowissenschaften kommt auch dem EOC und der USI zu, die seit der Einführung des Masterstudiengangs in Medizin vor drei Jahren eng zusammenarbeiten. Die Kooperation zwischen den beiden Einrichtungen betrifft vorerst vor allem die Didaktik, soll jedoch zunehmend auf die Forschung ausgeweitet werden, insbesondere wenn auch im Tessin das lang ersehnte Universitätsspital entsteht (wie es in anderen Schweizer Kantonen bereits der Fall ist). «Es ist wichtig, zuallererst begriffliche Klarheit zu schaffen», so Glauco Martinetti, Generaldirektor des EOC. «Gegenwärtig ist unser Spital ein Kantonsspital, das über mehrere Standorte verteilt ist und universitären Unterricht (sowie hervorragende Forschungsaktivitäten) bietet. Wir können noch kein vollwertiges Universitätsspital sein (das über Geräte und Labore verfügt, die es gemeinsam mit der Universität nutzt, Anm. d. Red.), da es im Tessin an der USI keinen Bachelor in Medizin gibt und wir nicht die Möglichkeit bieten, 100 Prozent der Erkrankungen zu behandeln (sondern nur rund 95 Prozent, was trotzdem beachtlich ist... Insbesondere sind wir nicht in der Lage, schwere Verbrennungen zu behandeln und Transplantationen durchzuführen). Allerdings sind wir bestrebt, dieses Niveau innerhalb von 5-10 Jahren zu erreichen. Die Entwicklung des EOC – so Martinetti weiter – muss in enger Zusammenarbeit mit der USI erfolgen, sowohl im Hinblick auf die Ausbildung als auch auf die klinische Forschung. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Kanton uns die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellt. Im Moment erhalten wir nur Gelder für die Behandlung und die Ausbildung, nicht aber für die Forschung (die fast ausschliesslich durch externe „Grants“ finanziert wird). Wenn wir uns zu einem Universitätsspital entwickeln wollen, müssen wir den Ärztinnen und Ärzten mehr Zeit für die Forschung am Krankenbett einräumen, indem wir das Personal aufstocken. Doch all das kostet Geld».

Patrick Gagliardini, Prorektor für Forschung an der USI, bestätigt dies: «Gemeinsame Forschung mit dem EOC? Das ist eine Frage des Willens und der Ressourcen. Es ist ein ehrgeiziger Weg, der die Biomedizin im Tessin neu ausrichten würde. Wir haben mit der Didaktik begonnen und eine gemeinsame Forschungsstrategie erarbeitet: Wir haben uns an einen Tisch gesetzt und die konkrete Strategie zu Papier gebracht. Wir denken vor allem an gemeinsame Forschungsgruppen des EOC und der USI, die zur Gründung gemeinsamer Institute führen könnten. Doch um wirklich in Gang zu kommen – fährt Gagliardini fort –, muss dieses Projekt zu einer gemeinsamen Tessiner Initiative werden. Alle werden sich die Frage stellen müssen: „Wie soll sich der Bereich Life Sciences in unserem Kanton entwickeln?“ Selbstverständlich braucht es auch die entsprechenden Mittel: Es geht darum, eine angemessene Unterstützung mit finanziellen Mitteln zu finden, die nicht zu Lasten anderer Bereiche gehen dürfen. Kurz gesagt, es braucht mehr reale Ressourcen, die jedoch nicht nur als Kosten, sondern auch als Investitionen zu betrachten sind, die Arbeitsplätze und Innovationen schaffen und unsere Region attraktiver machen können. Das braucht Zeit und Weitblick. Ich stehe voll und ganz hinter diesem Projekt».

(Dieser Artikel wurde für die Rubrik Ticino Scienza geschrieben, die in der Tageszeitung LaRegione von Bellinzona veröffentlicht wird)