lingua madre

Andrea Moro: Um eine Sprache zu lernen, muss das Gehirn die anderen «vergessen»

Samstag, 27. März 2021 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

«Lingua Madre - capsule per il futuro» (zu Deutsch «Muttersprache - Kapseln für die Zukunft») lautet der Auftakt zum Thema Sprache mit einer Videokonferenz von Andrea Moro, Professor für allgemeine Sprachwissenschaft an der Scuola Universitaria Superiore IUSS in Pavia, über «Confini di Babele. Lingue impossibili, logica e cervello» (zu Deutsch «Grenzen von Babel. Unmögliche Sprachen, Logik und Gehirn»). Diese Onlinekonferenz (oder vielleicht besser dieser Videounterricht) ist «verbunden» mit Analisi logica, una drammaturgia in forma di saggio (zu Deutsch «Logische Analyse, eine Dramaturgie in Essayform»), geschrieben von Riccardo Favaro und umgesetzt von Fabio Condemi. Beide stehen auf der Webseite des LAC - Lugano Arte e Cultura seit Samstag dem 27. März kostenlos zur Verfügung. Die Konferenz von Moro ist eine Produktion in Zusammenarbeit mit Ticino Scienza.
Lingua Madre, was ist das? Ein grosses Projekt des LAC mit höchst innovativen Inhalten aus verschiedenen Themenbereichen, um neue Formen des Ausdrucks zu Zeiten der Pandemie mit Theatern, Konzerthäusern, Kinos und all den anderen klassischen Kultur- und Unterhaltungsstätten, die derzeit geschlossen sind, zu erkunden.
Aber zurück zu Moros Videounterricht. Als Schüler von Noam Chomsky (einem der berühmtesten Sprachwissenschaftler auf internationaler Ebene) zeigt Andrea Moro, dass die Sprachen, auch wenn sie sehr stark voneinander unterscheiden, Ausdruck einer einzigen, in unserem Gehirn vorhandenen «generativen Grammatik» sind und dass sie auch aus der Ablehnung einer Reihe für unser Gehirn inakzeptabler grammatikalischer Strukturen entstehen, basierend auf einem «Imprinting», das die Spezies Mensch charakterisiert (bei jüngsten wissenschaftlichen Studien wurden Bereiche des Gehirns identifiziert, die nicht reagieren, wenn sie Worte in einer Reihenfolge hören, die sich nicht an die grundlegenden Regeln unserer Spezies hält). Zu diesen Themen haben wir ein Gespräch mit Professor Moro geführt.

Es stimmt also nicht, wie man Jahrhunderte lang glaubte, dass die Sprachen eine praktische und arbiträre Konstruktion sind... 
«Gehen wir von einer wissenschaftlichen Betrachtung der Welt aus – beginnt Moro. – Wie wir wissen, kommen alle Lebewesen mit dem angeborenen Bedürfnis der Nahrungsaufnahme auf die Welt, und dafür verwenden sie eine bereits vorhandene „praktische Konstruktion“ (in unserem Fall den Mund). Nun, das Gleiche könnten wir für die Sprache sagen: Die Lebewesen (die Tiere, aber auch die Pflanzen mit der Bestäubung) haben das Bedürfnis nach Kommunikation, und dieses Bedürfnis hat nicht zur Formgebung der Struktur geführt. Mit anderen Worten, die Menschen müssen kommunizieren und sie tun es durch etwas, was sie im Körper bereits vorgefunden haben, den Apparat, der dazu dient, den Inhalt der Kommunikation von einem Individuum an ein anderes weiterzugeben (Mund und Ohren) und eine neurobiologische Struktur des Gehirns, die wir ganz allein haben. Denn während es Mund und Ohren auch bei anderen Wesen der Tierwelt gibt, besitzen die Menschen eine weitere Fähigkeit».

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Meinen Sie die Fähigkeit, Symbole zu verwenden, um auf etwas hinzuweisen, das für etwas anderes steht?
«Nein. Auch wenn viele der Meinung sind, dass das Symbol der Punkt ist, an dem sich die menschliche Sprache von der der Tiere unterscheidet (ich zitiere allen voran Ian Tattersall, einen der weltweit grössten Experten für menschliche Evolution), so bin ich anderer Meinung. Man halte sich beispielsweise vor Augen, wie der Urin bei vielen Tieren auch eine symbolische Funktion hat, und zwar die der Markierung des Reviers unter Mitgliedern derselben Spezies.
Während die Symbole auf mehrere Arten Lebewesen zutreffen, sind meiner Meinung nach nur die Menschen in der Lage, die Reihenfolge der Worte (der typischen Symbole der Menschen) zu ändern und unterschiedliche Bedeutungen zu konstruieren: „Kain tötete Abel“ unterscheidet sich massgeblich von „Abel tötete Kain“. Wie bereits Descartes in seiner „Methode“ verdeutlichte, steht uns Menschen die Syntax zur Verfügung.
Heute jedoch wissen wir, ausgehend von Chomskys Arbeiten seit den Fünfziger Jahren, dass diese syntaktische Fähigkeit präzisen, einfachen mathematischen Regeln folgt, die jedoch gut verborgen und von „Rekursivität“ geprägt sind. Das bedeutet, dass dieselben syntaktischen Regeln innerhalb eines Satzes zyklisch wieder angewendet werden. Ein typisches Beispiel für dieses Phänomen sind Sätze, die in anderen Sätzen vorkommen. Zum Beispiel „Gianni läuft“: Wir können hinzufügen „Der Freund von Gianni läuft“, dann „Die Tochter des Freundes von Gianni läuft“ und so weiter. Das kann man potentiell unendlich fortsetzen. Die Menschen machen, um es mit den Worten von Wilhelm von Humboldt zu sagen, „von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch“. Das ist die Syntax: Endliche Elemente (Worte), die Strukturen bilden, die unendlich fortgesetzt werden könnten und die von der neurobiologischen Struktur des Gehirns abhängen».

Wenn Sie von sprachlichen Elementen (Worten) in unendlichen Kombinationen sprechen, also ohne eine spezifische Beschränkung ihrer Zusammensetzung, dann kommt einem sofort ein Bild in den Sinn: Das der mathematischen Berechnung.
«Ja, Mathematik und Grammatik haben wie die Musik die Fähigkeit, potentiell unendliche Sequenzen zu bilden und stellen, meiner Meinung nach, den Fingerabdruck des Menschen dar».

Könnten wir die Welt auch allein mit der Mathematik und der Musik darstellen?
«Sicher, wie die Sprache „sprechen“ auch die Mathematik und die Musik von der Welt. Wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass man normalerweise bei einer Beerdigung keinen Cha-Cha-Cha spielt und dass man mit angewandter Trigonometrie etwas über die Welt sagen kann. Die Sprache jedoch spricht nicht nur über die anderen, sondern kann über sich selbst sprechen. In dieser Hinsicht ist sie einzigartig. Ich möchte allerdings präzisieren, dass die Sprache die Beschreibung der Wirklichkeit nicht beeinflusst. Dieser Vorgang ist zu kompliziert. Wir wissen nicht einmal genau, was es bedeutet, die Wirklichkeit zu beschreiben. Wir können sie nur in Teilen beschreiben. Diesbezüglich haben verschiedene wissenschaftliche Experimente gezeigt, dass ich die Wirklichkeit, auch wenn ich von einer anderen Sprache ausgehe, auf dieselbe Weise wahrnehme. Zum Beispiel die Farben: Manche Sprachen haben viele Namen für die Farben, andere wenige, aber die Augen derer, die unterschiedliche Sprachen sprechen, sind gleich».

Bleibt noch die zentrale Frage über das Erlernen von Sprache. Wie funktioniert das?
«Hier treten wir in Chomskys grosse Revolution ein: Die These, dass die Sprache in unserem Gehirn „angelegt“ ist, hat die traditionelle Vorstellung der „tabula rasa“ abgelöst, nach der das Gehirn bei der Geburt vollkommen leer sei und die Grammatiken mit der Zeit angeeignet würden. Nach Chomsky gibt es eine neurozerebrale Struktur, also ein Netzwerk aus Kreisläufen, die den Sprachcode konditionieren. Daraus folgt, dass wir alle mit denselben Anlagen für alle Sprachen starten, aber die, die wir bis zum Alter von ca. fünf oder sechs Jahren nicht verwenden, verfallen. Wir vergessen sie. Was überlebt, wird zur Grammatik „meiner“ Sprache. Aus diesem Grund fällt es Erwachsenen schwerer, Sprachen zu lernen, während Kinder dieselbe Zeit zum Erlernen einer beliebigen Sprache benötigen. Und, anders als man vielleicht befürchten mag, gibt es keine Probleme, wenn die Kleinen mehrere Sprachen erlernen (im Gegenteil, bei Erwachsenen kann sich die Kenntnis mehrerer Sprachen als Schutzfunktion gegen Symptome der Demenz auswirken). Ich verwende gerne ein Bild: Das Gehirn ist ein Wald, in dem ich ein paar Bäume fälle und einen Garten erblühen lasse, der der Anzahl meiner Sprachen entspricht!
Ausserdem steht diese These im Einklang mit den Vermutungen von Niels Kaj Jerne, Nobelpreisträger für Medizin im Jahre 1984. Er vermutete, dass das Immunsystem des Menschen und anderer Lebewesen nicht bei Null anfängt, sondern bereits auf viele Krankheiten gepolt, von denen manche dann aktiviert werden, andere nicht, zur Welt kommt. Der Lernprozess erfolgt also –um auf Ihre Frage zu antworten – durch Vergessen, nach der Definition des Neuropsychologen Jacques Mehler, die dann wiederum von dem Neurowissenschaftler Pierre Changeux in seinen Studien über die progressive Reduzierung der syntaktischen Kontakte im kindlichen Gehirn aufgegriffen wurde: Als Kind selektieren wir die typischen Unterscheidungsmerkmale der Sprache, der wir ausgesetzt sind, wobei wir alle anderen beiseite legen und vergessen».