INTERVIEW

«Das Theater? Niemals hat es seine Fähigkeit zu heilen verloren (auch nicht heute)»

Dienstag, 18. Mai 2021 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

Am Teatro dell’Architettura in Mendrisio das neue Stück von Daniele Finzi Pasca, «52»: Eine intensive Suche nach der therapeutischen Macht der Worte
von Paolo Rossi Castelli

Die Fantasie, Geschichten schreiben und hören: Kein Luxus oder etwas Überflüssiges, sondern eine biologische Notwendigkeit wie trinken, essen und atmen für Daniele Finzi Pasca, Schauspieler, Mann des Theaters, Luganeser Künstler von internationalem Renommee. Die Geschichten sind zugleich die ältesten Schmerztherapien. Und «52», das neue Stück der Compagnia Finzi Pasca, das vom 18. bis 23. Mai im Teatro dell’Architettura in Mendrisio aufgeführt wird, ist eine klare Inkarnation dieser Vorstellung. Ein befreiender Verlauf, voller Leichtigkeit und Leiden zugleich, gespielt von einem hervorragenden Schauspieler, Pablo Gershanik, der eine höchst dramatische Episode seines Lebens erzählt und durchlebt: Die Ermordung seines Vaters (ein Kinderarzt) durch den argentinischen Geheimdienst während der tragischen Diktatur mit 80 Schüssen auf einer Hochzeitsfeier, Pablo selbst war erst 11 Monate alt. Der heute 46-jährige Schauspieler hat lange Zeit gebraucht, um diese Tragödie zu verarbeiten, sich ihr zu stellen und sie aus unbeteiligter Sicht zu beobachten. Dabei hat er vor kurzem unter anderem ein Modell des Stadtteils, in dem der Mord geschah, gebaut und versucht, sich vorzustellen, was in jenen Augenblicken, als sich die drei Fahrzeuge mit den Killern näherten (und sich zunächst sogar verfuhren), rundherum auch Schönes passierte, wie z.B. die Ironie gewisser Blicke, Sprüche, das Treffen Verwandter auf der Feier, die sich nie zuvor gesehen hatten. Diese Methode (der auch physischen Rekonstruktion von dramatischen Schauplätzen) wurde von Gershanik nach Paris gebracht, um den Familien der Opfer der Attentate auf den Sitz von Charlie Hebdo, auf den Bataclan und in Nizza zu helfen. Daraus wurde dann der Text eines Theaterstücks seines Freundes Finzi Pasca, ein aus dem Tessin stammender (im Viertel Molino nuovo in Lugano geborener), aber weltweit bekannter Autor für seine Shows mit dem Cirque du Soleil, dem Theater San Carlo in Neapel, am Broadway und für die Abschlussfeiern bei drei Olympischen Spielen.

Das Theater kann also heilen...
«Sicher, das wusste ich schon immer – antwortet Finzi Pasca, der an einem Steintisch direkt am Lago Maggiore sitzt, am historischen Standort seines Ensembles in Magadino. – Das heilende Theater ist nicht nur das Thema des neuen Stücks, sondern eine Suche seit vielen Jahren. Seit ich mich als Junge (im Alter von 18 Jahren und einem Tag) nach Indien aufmachte, in ein von Mutter Teresa ins Leben gerufene Aufnahmezentrum: Ein Ort, an den die Menschen kamen, um zu sterben. In Indien ist unweigerlich meine Einstellung zum Leiden entstanden».

Sie erwähnten die Geschichten...
«Ja, die Erzählung, die Geschichten können eine starke Macht über Geist und Körper der Menschen ausüben und zählen zu den ältesten Formen der Medizin. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: Geschichten, welche die Angst vor der Dunkelheit nehmen. Kinder haben häufig Angst im Dunklen, weil sie fürchten, dass die Dunkelheit ihnen die Eltern, ihre liebsten Menschen „nimmt“ und sie buchstäblich verschlingt, ohne sie wieder herauszugeben. Gegen diese Angst gibt es (hoffentlich...) keine Medikamente. Nur mit den Geschichten der Grosseltern kann man diese Angst überwinden. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Angst auch eine der Infektionskrankheiten (das scheint mir ein passender Ausdruck) ist, die sich die Diktaturen und Menschen, die über andere herrschen möchten, oftmals als bakteriologische Waffen zu Nutzen machen. Das Geschichtenerzählen ist notwendig, um auch diesen Mechanismus zu stoppen, diese Monster zu entlarven.

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Hatten Sie die Gelegenheit, sich diesbezüglich auch mit der Welt der Wissenschaft auszutauschen?
«Seit ich das Ensemble gemeinsam mit anderen Kollegen und Freunden gegründet habe, besteht laufender Kontakt zu verschiedenen Ärzten und Psychiatern. Mit ihnen haben wir lange überlegt, auf welche Weise man die Erzählung für die Heilung oder zumindest die Linderung gewisser Krankheiten einsetzen kann. Diese Themen habe ich aber auch mit einigen Schamanen, die eine antike Kultur in sich tragen, erarbeitet. Vor allem in Russland und Mexiko, wo ich zehn Jahre geblieben bin, aber auch in Kanada, Brasilien und Peru hatte ich mit ihnen zu tun. Insbesondere kooperiere ich mit russischen Schamanen. In Sankt Petersburg gibt esim Übrigen viele Orte, an denen Schamanen und Mediziner seit langem zusammenarbeiten. Die Welt der russischen Schamanen kommt von den Steppen, wo es „Figuren mit Kräften“ gibt, die über besondere Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeiten verfügen».

In unseren Breiten sind Schamanen nicht immer gern gesehen.
«Schamanen gibt es in allen Kulturen, sie versuchen, das Geheimnis des Todes zu lüften (daraus sind schliesslich die Religionen entstanden...) und für uns eine Verbindung mit einer tieferen, weiteren Dimension des Geistes herzustellen. In Kanada kommen die Schamanen aus der Welt der Inuit und hüten Traditionen, die in unserer Gesellschaft verloren gegangen sind: Die Verbindung zu Tönen von Leittieren und dem Rhythmus der Trommeln. Es handelt sich um Prozesse, die mit Initiationsriten zu tun haben, und die auch heilende Fähigkeiten mit sich bringen.

Und in der Schweiz?
«Auch bei uns gibt es derartige Bräuche, in gewisser Hinsicht. In der französischsprachigen Schweiz sind beispielsweise die „coupe-feu“ tätig, die von Verbrennungen betroffenen Personen helfen, die Schmerzen zu lindern und zu genesen. Ihre Adressen findet man am schwarzen Brett gewöhnlicher Krankenhäuser! Die Frage lautet: Muss man daran glauben, damit es funktioniert, oder soll man es einfach zur Kenntnis nehmen?»

Aber zurück zur Macht der Worte.
«Ja, ich möchte Ihnen gerne ein Paradoxon unterbreiten, das mich immer wieder beeindruckt. Im Italienischen gibt es ca. 1.000 Wörter zur Beschreibung unterschiedlicher Arten Teigwaren: Eine aussergewöhnliche Vielfalt! Was hingegen die Gefühle anbelangt, den Schmerz, ist der Wortschatz sehr arm. Es gibt beispielsweise den Begriff „Vedovo/Vedova“ (Witwer, Witwe), um jemanden zu definieren, der die Ehefrau oder den Ehemann verloren hat, aber es gibt keinen analogen Ausdruck für Menschen, die ihren Partner/ihre Partnerin verloren haben, ohne verheiratet zu sein. Oder jemanden, der keine Eltern mehr hat, nennt man „Orfani“ (Waisen), aber es gibt keinen entsprechenden Begriff, der jemanden beschreibt, der den Grossvater, einen Bruder, ein Kind verloren hat. Und schon allein der Ausdruck „verlieren“ ist in Bezug auf den Tod wirklich viel zu allgemein und irreführend. Man sagt „den Vater verlieren“ mit den gleichen Worten wie „den Schlüssel verlieren“... Ausserdem hat man beim Tod des Vaters nicht das Gefühl des Verlustes. Vielmehr fühlt man, beraubt worden zu sein!»

Und wie kann man eine für den Ausdruck von Gefühlen so arme Sprache ausgleichen?
«Meist werden die fehlenden Worte von der Kunst erfunden. Dem Künstler gelingt es, Sujets und Worte zu finden, die mit verblüffender Präzision ausdrucken können, wer wir sind und was wir fühlen – denn wir alle haben das Bedürfnis, uns zu erklären. Und das ist im Übrigen auch ein möglicher Ansatz für die Trauerbewältigung. Auch die Ärzte sollten das tun: Die richtigen Worte finden. Wenn ein Künstler eine Aufführung plant, dann verbringt er unglaublich viel Zeit damit, die Alchemie und das Wunder der Überraschung zu schaffen. Es ist harte Arbeit, den Zuschauer dazu zu bringen, dass er das Geschehen aufmerksam, gespannt und gebannt verfolgt, aber auch, ihn von Ängsten zu heilen (ein Versuch, den auch ich stets unternehme). Wir Schauspieler verbringen Stunden damit, um an dieses Ziel zu gelangen, bisweilen ohne Erfolg». 

Und die Ärzte?
«Ich beneide die Ärzte: Sie kommen ohne dieses ganze Verfahren aus. Ihre „Zuschauer“ (die Patienten) sind bereits gespannt. Sie warten nur darauf, dass sie die Praxistür öffnen und sprechen. Die Emotionen der Zuschauer sind den Ärzten sozusagen garantiert. Haben sie aber nichts zu sagen, bemühen sie sich nicht, wie es mitunter vorkommt, dann ist alles umsonst. Als Arzt muss man eine gewisse Empathie mitbringen: Schon ein kleiner Satz genügt für eine starke heilende Kraft».


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