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Pandemie und Kultur: Das Rezept von Philippe Kern, um «heil» herauszukommen

Dienstag, 29. Dezember 2020 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

Letzten Juni hat er mit einem Bericht für den Europarat über die schwerwiegenden Schäden der Pandemie auch für die kulturellen Aktivitäten mit dem Titel «The impact of the COVID-19 pandemic on the Cultural and Creative Sector» Alarm geschlagen. Aber Philippe Kern, Gründer des Forschungszentrums KEA European Affairs mit Sitz in Brüssel, hat auch bei weiteren Anlässen die Gelegenheit ergriffen, um die Notwendigkeit zu betonen, die Kultur in dieser so schwierigen Phase zu unterstützen. Auch bei dem Webinar, das von der Divisione Cultura della Città di Lugano (Kulturamt der Stadt Lugano) und der Stiftung IBSA im Rahmen des Projekts Cultura e Salute (Kultur und Gesundheit) am vergangenen 3. November veranstaltet wurde, trat er als unermüdlicher Verfechter zugunsten von mehr Aufmerksamkeit für die Kulturbranche auf, die häufig nicht als das gesehen wird, was sie ist: Ein sehr wichtiger Motor für die Wirtschaft, dazu ein wesentlicher Faktor sozialen Zusammenhalts, der Anerkennung verschiedener Identitäten und der intellektuellen Bereicherung, die auch der Gesundheit guttut. Eine Branche im freien Fall. Ein paar Zahlen? Nach dem Bericht des KEA haben einige Sparten der grossen Welt der kulturellen Produktion im zweiten Quartal 2020 Umsatzeinbussen von bis zu 80 Prozent hinnehmen müssen, und die Situation hat sich, wie wir hinzufügen, in den vergangenen Monaten weiter verschlechtert.

Doktor Kern, was wird aus der Kultur, wenn die Pandemie vorüber ist?

«Ich wünsche mir, – antwortet Kern – dass es den Fachleuten und allen anderen Personen, die mit und in der Kultur zu tun haben, gelingt, ihr Verhandlungspotential auf nationaler, regionaler und vor allem lokaler Ebene zu stärken und den Bedarf an Kultur verständlich zu machen, damit sie nicht nur dem Publikum, sondern auch den Institutionen konkrete, kreative und innovative Vorschläge unterbreiten können».

Diese von der Pandemie geprägten Monate bringen, auch durch die neuen Wege der Kommunikation, zahlreiche Initiativen der Solidarität und des Zusammenhalts hervor...

«Das stimmt, wir erleben die Fähigkeit der Kultur, Menschen zu mobilisieren und zu vereinen, sich trotz der Distanz durch unterschiedliche musikalische, graphische und künstlerische Formen, Komplexität und Darstellungen nahzustehen. Und da sich die Kultur auch von dem Dialog zwischen unterschiedlichen Welten, die repräsentiert werden, nährt, kann man sich die Kunst, die Musik und die vielen anderen künstlerisch-kulturellen Formen auch als Hilfen für die Integration, das empathische Verständnis, das gegenseitige Kennenlernen und die Solidarität zwischen den Ländern vorstellen. Mit anderen Worten, die vielen kulturellen Angebote und Aktivitäten, die auf Entfernung Künstler, Musiker, Regisseure und andere aus verschiedenen Ländern mit einbezogen haben, werden zu einem Mittel, das dem Publikum Linderung verschafft und gleichzeitig zur Schaffung einer gemeinsamen Geschichte beiträgt.
Und wenn wir uns den besonderen Fall der EU ansehen, so kann der in diesen Monaten technologisch geförderte kulturelle Austausch günstige Bedingungen für einen europäischen Zusammenhalt liefern, ich würde sogar so weit gehen, von der Schaffung einer viel tieferen und dauerhafteren gemeinsamen Identität in der EU zu sprechen, als sie durch wenige konkrete Marktlogiken oder Wertediskurse möglich gewesen wäre».

Auf welche Weise stellen die neuen künstlerischen und kulturellen Formen, welche die physischen Barrieren (vor allem durch Streaming) überwinden, eine Herausforderung für die traditionellen Kulturstätten dar?

«Da durch die Pandemie Live-Veranstaltungen und vor grossem Publikum nicht möglich waren, konnten verschiedene bereits zuvor existierende und genutzte Typologien (wie Spotify und Netflix) davon profitieren. Das ist eine Tatsache. Die jüngeren Generationen beispielsweise folgen musikalischen Events oder künstlerischen Performances über die sozialen Netzwerke und das Smartphone, aber das war bereits vor der Pandemie der Fall. Die „traditionellen“ Kulturstätten (Kinos, Theater, Konzerthäuser, usw.) müssen sich also fragen, wie es gelingen kann, neue oder andere Kulturnutzer zu gewinnen, auch angesichts der neuen Heterogenität der Personen, die man via Streaming erreichen kann. Früher galt ein Theaterbesuch als etwas Elitäres, für die Bildungsschicht. Heute steht die traditionelle Kultur vor der Herausforderung, auch ein grösseres und breiter gefächertes Publikum zu erreichen. Dasselbe gilt für die Museen, die ihr Anziehungspotential durch den Gebrauch von Ausstellungen mit der Nutzung der virtuellen Realität steigern könnten. Abschliessend kann man sagen, dass die Kultur durch neue Formen der Verbreitung und der Nutzung die Chance hat, inklusiver zu werden, für die meisten zugänglich zu sein somit sozio-kulturelle Grenzen abzubauen».

Aber sind sich die Künstler und Fachleute der Kulturbranche ihrer sozialen Funktion bewusst und wissen sie, dass sie im weiteren Sinne auch ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitsbranche sind?

«Leider ist dieses Bewusstsein heute nur wenig verwurzelt. Zum einen werden die Kulturschaffenden und die Kreativen von den Politikern nicht an einen Tisch gebeten und sind häufig in deren institutionelle Pläne für Zukunft und Gesundheit nicht ausreichend eingebunden. Wer sich mit Theater, Musik und Kunst im Allgemeinen beschäftigt, wird allzu oft als „einfacher“ Unterhalter angesehen, auf den man auch verzichten kann. Ausserdem fehlt den Kulturschaffenden noch dieses Selbstbewusstsein für ihre eigene Rolle, wie wir es unter anderen Berufsgruppen, beispielsweise Ärzten, Wissenschaftlern und Wirtschaftsvertretern sehen. Auch aus diesem Grund fällt es diesen Menschen schwer, der Bedeutung der Kultur in Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen als etwas, das für die Allgemeinheit unverzichtbar ist, Gehör zu verschaffen».

Ein bisschen Bewegung macht sich bereits bemerkbar...

«Bemerkenswert auf europäischer Ebene sind die Erwartungen an den Fonds Recovery and Resilience Facility, der von der EU auch für Aktivitäten zur Unterstützung der Kultur in den von Corona betroffenen Mitgliedstaaten bereitgestellt wurde: Ein Zeichen der Anerkennung seitens der Institutionen für die Bedeutung der Kultur für die Menschen, für Kulturschaffende und Publikum gleichermassen. Auch in der Schweiz hat der Bundesrat in der Sitzung vom 18. Dezember 2020 eine Änderung der Covid-19-Kulturverordnung beschlossen, die den Kulturschaffenden den Zugang zu einer Ausfallentschädigung einräumt. Es gibt noch viel zu tun, aber es sind wichtige Schritte».

Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern Philippe Kern, Gründer des Forschungszentrums KEA European Affairs Das Foto vergrössern