kultur und gesundheit

Musik als Heilmittel, 3. Lektion Luisa Lopez: Nein, wir müssen nicht unbedingt Mozart hören...

Donnerstag, 10. November 2022 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
Luisa Lopez, Neurophysiopathologin
Luisa Lopez, Neurophysiopathologin

von Valeria Camia

Manche mögen schnellere Musik, andere langsamere. Manche bevorzugen rein instrumentale Musik, andere wiederum ziehen Musik mit Gesang vor. Die einen hören gelegentlich Musik, die anderen ständig. Manche entdecken ihre Liebe zur Musik erst später im Leben, andere hingegen bereits in der Kindheit. Neulich scheint es, dass letztere im Laufe des Lebens am meisten davon profitieren.
Die Rede ist von Musik und Harmonie, dem Thema des Kurses
Musik als Heilmittel, der von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano, der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und – dieses Jahr – dem Conservatorio della Svizzera italiana organisiert wird.
Die sieben Lektionen des Kurses zielen darauf ab, eine wissenschaftliche Perspektive auf den Einsatz von Musik zur Förderung des gegenwärtigen und zukünftigen psychischen, physischen und kognitiven persönlichen Wohlbefindens zu bieten. Um genau diese langfristigen Auswirkungen von Musik geht es am Montag, den 7. November, um 18 Uhr, in der dritten Lektion des Kurses, zu dem die Neurophysiologin Prof. Luisa Lopez als Referentin eingeladen ist.
Lopez ist ärztliche Leiterin der Praxis für Neuropsychiatrie im Entwicklungsalter in der Privatklinik „Villa Immacolata“ in Viterbo und wissenschaftliche Beraterin für das Projekt „Neurowissenschaften und Musik“ der Stiftung „Fondazione Mariani“. Darüber hinaus ist Lopez als wissenschaftliche Leiterin der Schule für Musiktherapie „Oltre“ in Rom tätig. Seit vielen Jahren ist sie ausserdem für den italienischen Legasthenie-Verband „Associazione Italiana Dislessia“ in der Ausbildung tätig und erforscht die Rolle der Musik beim Aufbau unserer kognitiven Reserve bzw. des aktiven Prozesses in unserem Gehirn, der beispielsweise dazu dient, Alterungsprozesse zu kompensieren oder ihnen entgegenzuwirken.

Frau Professor Lopez, lassen Sie uns mit dem Titel der Lektion beginnen: „Musikerziehung und psychisch-kognitive Entwicklung“. Bedeutet das, dass musikalische Erfahrungen und Aktivitäten unser Gehirn bereits in den ersten Lebensjahren derart stimulieren, dass sie im Alter ein wertvolles Kapital darstellen?

«Wie die bahnbrechende Forschungsarbeit von Sandra Trehub in Kanada und kürzlich auch die von Manuela Filippa und ihrer Forschungsgruppe in der Schweiz gezeigt haben – entgegnet Luisa Lopez – löst Musik (insbesondere jene, die durch eine starke Ausdruckskraft und Ritualisierung gekennzeichnet ist, wie es bei Wiegenliedern der Fall ist) bei Kleinkindern und sogar bei Föten nicht nur eine Reihe sensorischer Reize aus, sondern ruft auch Erinnerungen hervor: So wenden sich Babys beispielsweise Klängen zu, die sie bereits in der Gebärmutter gehört haben, und fühlen sich stärker von der Stimme der Hauptbezugsperson angezogen. Es gibt also Hinweise auf eine gewisse angeborene Merk- und Empfindungsfähigkeit für musikalische Sequenzen (wenngleich noch nicht geklärt ist, ob sie genetisch bedingt ist). Darüber hinaus werden beim Hören eines Instrumentalstücks oder eines Liedes nicht nur die sprachlichen Bereiche des Gehirns aktiviert (die Intonation, die emotionale Betonung oder Sprechpausen), sondern auch die motorischen, d. h. jene Regionen, in denen sich die Neuronen befinden, die motorische Befehle an die Muskeln senden (haben wir nicht oft Lust zu tanzen und uns zu „bewegen“, wenn wir Musik hören?). Deshalb könnte Musik den Aufbau der kognitiven Reserven des Gehirn fördern: Sie trainiert das Gehirn sowohl in emotionaler als auch in kognitiver Hinsicht, erhöht dessen Plastizität und verbessert so dessen Fähigkeit, etwaigen kognitiven Defiziten im hohen Alter entgegenzuwirken».

Sollten wir also alle von klein auf Mozart und Bach hören?

«Sie haben zwei Komponisten erwähnt, die ich sehr schätze, doch die Antwort auf Ihre Frage lautet „nein“: Wir müssen weder ausschliesslich noch unbedingt diese Komponisten hören, um die emotionale und kognitive Entwicklung unseres Gehirns zu fördern. Die Vorstellung, dass klassische Musik die richtige Musik „für das Gehirn“ sei, ist ein ethnozentrischer Trugschluss, der auf unsere Bezugskultur zurückzuführen ist. Die Musikkultur, die andere Völker und Nationen von Kindheit an teilen, unterscheidet sich bekanntlich grundlegend von „unserer“. Gleichzeitig kann man sagen, dass es bestimmte universell anerkannte musikalische Harmonien und Strukturen gibt. In seiner kürzlich durchgeführten Studie verglich Samuel Mehr, wie unterschiedliche Völker auf verschiedene Musikstücke reagieren und zu welchem Anlass sie diese verwenden würden. Dabei zeigte sich zum Beispiel, dass Wiegenlieder in verschiedenen untersuchten und verglichenen Kontexten als solche erkannt werden».

Eine weitere provokante Frage: Müssen wir auch in der Lage sein, Noten zu lesen, musikalische Strukturen zu verstehen und sogar Stücke zu komponieren, um die positive Wirkung von Musik auf das Gehirn optimal nutzen zu können?

«Ausgangspunkt zur Beantwortung Ihrer Frage ist, dass das musikalische Ohr geschult werden muss. Auf welche Weise? Die meisten von uns denken, dass Kinder oder auch Erwachsene aktiv zum „Musizieren“ angeregt werden oder musikalischen Unterricht erhalten müssen. Dies stimmt jedoch nur zum Teil, und inzwischen sprechen einige Forschende von implizitem Lernen im Hinblick auf musikalische Aspekte: Im Alltag tauchen wir ständig in eine Welt der Lieder, Melodien und Klänge ein. In dieser Hinsicht erfolgt das musikalische Lernen auch unbewusst. Einerseits können durch das Spielen eines Instruments die Prinzipien des expliziten, bewussten und daher nachhaltigeren Lernens angewendet werden. Bei dieser Art des Lernens werden zahlreiche Hirnareale aktiviert, von denen das Verständnis und die Komposition eines musikalischen Textes, die Ausführung und Koordination von Bewegungen sowie das Merken von Sequenzen abhängen. Andererseits ist nicht gesagt, dass Menschen, die kein Instrument spielen, nicht auch vom blossen Musikhören profitieren können. So gesehen spielt die „Art“ der Klänge, denen man ausgesetzt ist, zusammen mit der Art des Musikerlebens eine viel grössere Rolle. Aus diesem Grund ist es meines Erachtens wichtig, schon in der Schule eine Erziehung zum Musikhören zu fördern, wobei es gar nicht so sehr darum gehen sollte, das Gehör zu schulen, sondern vielmehr darum, melodische Aspekte, Tonalitäten und Rhythmen wertschätzen zu lernen. Gleichzeitig ist es wünschenswert, dass die Wissenschaft – die sich mit der Wirkung von Musik auf das Gehirn und die Gesundheit befasst – in ständigem Dialog mit den verschiedenen Akteuren steht, die tagtäglich Musik „machen“ und „fördern“, damit sich das Musikhören auf Fakten stützen kann und eine wissenschaftliche Grundlage erhält. Es ist gewiss nicht der Hintergrundlärm – schon gar nicht in hoher Lautstärke wie in einem Einkaufszentrum –, der Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit und Gedächtnis oder Lesekompetenz fördert!» 

Eine letzte Frage zum Thema Musikerziehung als Rehabilitationsmassnahme bei Legasthenie, das Gegenstand eines Forschungsprojekts ist, an dem Sie persönlich beteiligt waren. Erzählen Sie uns davon.

«Legasthenie ist eine spezifische Lernstörung, die sich durch eine spezifische und anhaltende Schwierigkeit beim Erlernen des Lesens bemerkbar macht und normal intelligente, gut gebildete Kinder mit angemessenem soziokulturellem Hintergrund betrifft. In unserer Studie gingen wir von der Annahme aus, dass rhythmisch-musikalische Fähigkeiten positiv mit der phonologischen Bewusstheit und der Lesefertigkeit korrelieren. Die Ergebnisse zeigen, dass musikalische Übungen und Gruppenaktivitäten selbst legasthenen Kindern die Durchführung der für das Lesen erforderlichen Vorgänge – wie die Phonemverschmelzung – erleichtern. Aniruddh Patel, Forscher an der Tufts University, argumentiert mit seiner OPERA-Hypothese, dass Musik und Sprache sich gegenseitig positiv beeinflussen, was nicht nur auf die Tatsache zurückzuführen sei, dass sich die für die beiden Funktionen (Musik und Sprache) zuständigen Hirnstrukturen überlappen, sondern auch auf die Präzision (die in der Musik im Hinblick auf Töne und Intervalle grösser ist als in der Sprache), die Emotionen (die durch Musik hervorgerufen werden können, wodurch die Merkfähigkeit verbessert wird) und die Wiederholung (das Wiederholen mit der Musik ist weniger „langweilig“ und fördert sowohl die Merkfähigkeit als auch die Aufmerksamkeit). All diese Funktionen, die sich auf die Sprache auswirken, können auch das Lesenlernen erleichtern. Die Ergebnisse unseres von der Stiftung „Fondazione Mariani“ finanzierten Projekts „Musik und Legasthenie“ werden in der akademischen Studie unter dem Titel „Music Training Increases Phonological Awareness and Reading Skills in Developmental Dyslexia: A Randomized Control Trial“, die in der Fachzeitschrift Plos One veröffentlicht wurde, präsentiert».