kultur und gesundheit

Musik als Heilmittel, 2. Lektion
Enzo Grossi: Im Gehirn gibt es ein Zentrum für das Schönheitsempfinden

Montag, 7. November 2022 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana
Enzo Grossi, Arzt, Dozent und Forscher
Enzo Grossi, Arzt, Dozent und Forscher

von Valeria Camia

«Die entscheidende Erziehung, mein Glaukon, ist die musikalische, da Rhythmus und Harmonie in das Innere der Seele eindringen und sie am stärksten ergreifen, indem sie ihr eine edle Haltung verleihen und diejenigen demgemäss gestalten, die eine entsprechende Erziehung erhalten haben.» So schrieb der griechische Philosoph Platon in seinem Buch Der Staat [401d5-402a3] und betonte dabei die ästhetische und erzieherisch-bildende Funktion der Musik, die in der Lage ist, die Seele zu gestalten.
Diese Reflexion über die Beziehung zwischen Musik und Körper ist heute noch aktuell und basiert auf wissenschaftlichen Grundlagen. Natürlich ist nicht nur die Musik in der Lage, Emotionen und Gemütszustände hervorzurufen oder zu verändern, sondern auch die Kunst und ästhetische Eindrücke im Allgemeinen, wie z. B. der Anblick eines atemberaubenden Panoramas oder eines mittelalterlichen Freskos, um zwei sehr unterschiedliche Beispiele zu nennen. Es ist jedoch die Musik, die aufgrund ihrer einfachen Einsetzbarkeit und Kontrollierbarkeit im Rahmen von Therapien in jüngster Zeit das Interesse von Wissenschaftlern und Klinikern geweckt hat, die zusammen mit Musikwissenschaftlern und Musikern das therapeutische Potenzial des Hörens oder Produzierens von Melodien erforscht haben.
In diesem Zusammenhang wurde die Musiktherapie ins Leben gerufen, deren Zweck es ist, den Patientinnen und Patienten zu helfen, bestimmte Ziele zu erreichen, wie z. B. die Rehabilitation oder Krankheitsbewältigung. Dies ist möglich, weil wir heute mehr über die physiologischen Mechanismen wissen, auf welche die Musik einwirkt, und in nächster Zukunft im Hinblick auf die Ausarbeitung individueller Melodien immer mehr auf die Unterstützung durch künstliche Intelligenz zählen können, wie Enzo Grossi erklärt. Der Chirurg, Dozent und Forscher ist ausserdem Referent des zweiten Lektionsabends unter dem Titel „Musikmedizin gegen Schmerzen, Angst und Stress“ des Kurses Musik als Heilmittel, der von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano, der IBSA Foundation for scientific research und – dieses Jahr – dem Conservatorio della Svizzera italiana gefördert wurde. Dieser zweite Abend findet am 24. Oktober um 18 Uhr im Mehrzwecksaal des Campus Est in Lugano, in Via La Santa 1, statt.

Professor Grossi, was geschieht aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht mit uns, wenn wir schöne Musik hören?

«Im Allgemeinen wird bei ästhetischen Erfahrungen, die mit einer beliebigen Form von Kunst verbunden sind und ein Gefühl der Freude vermitteln, das Stresshormon Cortisol abgebaut und die Angst reduziert. Im konkreten Fall der Musik werden beim Hören von Melodien oder Klängen die Schwingungen des Trommelfells an die Cochlea, das Hörorgan im Innenohr, übertragen. Von dort werden diese Reize dann über die Hörnerven zu dem für ihre Aufnahme zuständigen Bereich des Kortex, nämlich der Hörrinde im Temporallappen, weitergeleitet. Hier erfolgt bereits eine Integration der vielen unterschiedlichen Elemente, die im weitesten Sinne Teil der Musik sind: von den Noten und ihrer Abfolge über die Harmonie – wir hören „Notenstreifen“ bzw. die sogenannten Harmonischen – bis hin zur Klangfarbe, die von dem Instrument oder Medium abhängt, das die Note erzeugt, und zum Rhythmus. Wenn der Mix dieser Eigenschaften einen derart hohen Komplexitätsgrad erreicht, dass das Ganze als angenehm und schön empfunden wird, verspüren wir instinktiv ein Gefühl der Zufriedenheit. Auf physiologischer Ebene wird im zentralen Kortex des Gehirns ein Zentrum stimuliert, das sich mit der menschlichen Spezies entwickelt hat und wahrscheinlich weder zur Zeit des Homo heidelbergensis, eines Hominiden, der vor Hunderttausenden von Jahren lebte, noch zu der des Neandertalers existierte. Dieses Zentrum wird auch als Zentrum für das Schönheitsempfinden bezeichnet, da hier die von unserer Spezies als schön bzw. angenehm empfundenen unterschiedlichen Sinneseindrücke – visuelle, olfaktorische, gustatorische und eben auch auditive – integriert werden». 

Und was passiert an diesem Punkt in unserem Gehirn?

«Die Stimulation des Zentrums für das Schönheitsempfinden wirkt sich auf andere Zentren des Gehirns aus, insbesondere auf die Basalkerne. Hierbei handelt es sich um Urzentren (d. h. aus evolutionärer Sicht uralte Gehirnzentren), die, wenn sie aktiviert werden, Neuromediatoren ins Spiel bringen: chemische Substanzen, denen wir die verschiedenen Gefühle (wie innere Ruhe, Zufriedenheit und Wohlbefinden) verdanken, die wir beim Genuss schöner Musik erleben. Es werden zunächst im Gehirn und dann im gesamten Körper Moleküle wie Dopamin, Oxytocin, Serotonin und Endorphine ausgeschüttet, die jeweils eine bestimmte Wirkung beispielsweise gegen Angst, Stress und Depression entfalten. Genau diesen Mediatoren werden die salutogene Wirkung des Musikhörens und die Wirkung gegen Leiden wie Depression, Angstzuständen und Stress zugeschrieben.

In Anbetracht dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Physiologie des menschlichen Gehirns bleibt die Tatsache bestehen, dass Musikgenuss, d. h. die Vorliebe für bestimmte Lieder oder Melodien, subjektiv ist. Wie kann die Medizin sicherstellen, dass alle Patientinnen und Patienten den für die Behandlung bestimmter Krankheiten erforderlichen musikalischen „Cocktail“ erhalten? 

«Es handelt sich um ein ehrgeiziges Forschungsprojekt, das neben der klinischen und medizinischen Forschung auch Musikerinnen und Musiker miteinbezieht. Zum einen verfügen wir heute über präzise Instrumente zur Entschlüsselung bestimmter Vorgänge im Gehirn mithilfe von Neuroimaging-Verfahren wie dem Elektroenzephalogramm, der transkraniellen Magnetstimulation, der funktionellen Magnetresonanztomographie und seit kurzem auch der Nah-Infrarot-Spektroskopie (NIRS), einer Art Stirnband, mit dem Messungen im Alltag statt im Labor durchgeführt werden können. Zum anderen können wir, nachdem wir eine wahre musikalische Biografie des Patienten erstellt haben, bereits auf innovative Verfahren der künstlichen Intelligenz zurückgreifen, die es ermöglichen, mithilfe von Algorithmen speziell auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Lieder oder musikalische Abläufe zu „konstruieren“. In diesem Zusammenhang möchte ich das Projekt Melomics erwähnen, über das Professor Alfredo Raglio im Rahmen der Lektion zum Thema „Musik als Heilmittel“ direkt im Anschluss an meinen Vortrag sprechen wird. Die Zukunft könnte also so aussehen: Nachdem wir die Wirkung der Musik auf das Gehirn nachgewiesen haben, werden wir an einer Verbesserung der Wirksamkeit dieses starken natürlichen Medikaments arbeiten können, wobei wir uns auf die Professionalität der Musiktherapeutinnen und -therapeuten stützen werden, die nicht nur über ein hohes Mass an Erfahrung und Fingerspitzengefühl verfügen, sondern sich auch der künstlichen Intelligenz bedienen werden».