kultur und gesundheit

Musik als Heilmittel, 1. Lektion
Suzanne Hanser: Klänge und Rhythmussind eine „Zeitkapsel“

Montag, 7. November 2022 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana
Suzanne Hanser, Dozentin für Musiktherapie am Berklee College of Music in Boston (Vereinigte Staaten)
Suzanne Hanser, Dozentin für Musiktherapie am Berklee College of Music in Boston (Vereinigte Staaten)

von Valeria Camia

Es war einmal ein kleines Mädchen, das mehrere Monate in seinem Zimmer verbringen musste, ohne die Möglichkeit, Freunde zu treffen oder zur Schule zu gehen. In diesem Haus hatte das kleine Mädchen nur einen einzigen Spielgefährten, und zwar einen, der ihr geduldig zuhörte, ohne Fragen zu stellen, und sowohl ihre Wut als auch ihren Schmerz aufnahm, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Bei diesem Spielgefährten handelte es sich um ein Klavier. Sie hatte es sich von ihren Eltern nach ihrer Rückkehr von einem Krankenhausaufenthalt gewünscht. Damals war sie fünf Jahre alt. Von diesem Moment an haben sich das kleine Mädchen und das Musikinstrument nicht mehr voneinander getrennt. Im Gegenteil: Sie haben sogar „gemeinsam“ studiert und schliesslich einen Weg gefunden, mithilfe von Musik andere Menschen zu heilen. Dieses kleine Mädchen heisst Suzanne Hanser und arbeitet heute als Professorin für Musiktherapie am Berklee College of Music in Boston (Vereinigte Staaten). Die ehemalige Präsidentin der World Federation of Music Therapy (Internationale Non-Profit-Organisation für Musiktherapie) zählt zu den weltweit führenden Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Musiktherapie. Unter anderem hat Suzanne Hanser mit Unterstützung des National Institute on Aging ein Forschungsprogramm ins Leben gerufen, um die Wirkung von Musik und Musiktherapie auf Schmerzen, Angstzustände, physiologische Veränderungen, Stressfaktoren und Lebensqualität zu entwickeln und zu untersuchen. 

Hanser wurde eingeladen, am 17. Oktober in Lugano die Lektionsreihe zum Thema „Musik als Heilmittel“ zu eröffnen, die von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano, der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und dem Conservatorio della Svizzera italiana gefördert wurde. Das Thema der ersten von insgesamt sieben Lektionen, in deren Rahmen sich von Oktober bis Dezember Persönlichkeiten aus der Wissenschaft mit Professorinnen und Professoren der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften über die Beziehung zwischen Musik, Medizin und dem menschlichen Wohlbefinden austauschen werden, lautet: „Der aktuelle Stand der Musik in der Medizin“

Doch treten wir kurz einen kleinen Schritt zurück: Dass ein bestimmtes Lied oder eine Melodie uns in gute Laune versetzen, indem sie uns zum Beispiel an das Gelächter vom letzten Urlaub am Meer erinnern, oder uns ein wenig traurig machen, indem sie uns an eine beendete Liebesbeziehung erinnern, erleben wir jeden Tag. Ebenso ist es der Musik zu verdanken, dass wir einem überfüllten und lauten Zug, dem endlosen Warten im Wartezimmer eines Arztes oder quälenden Gedanken „entfliehen“ können. «Die Musiktherapie – erklärt Suzanne Hanser – baut auf dem Bewusstsein auf, dass sich das Hören und Spielen von Klängen und Melodien auf Gemütszustände und Emotionen auswirken kann. Die Musiktherapie bietet auch einen evidenzbasierten wissenschaftlichen und systematischen Ansatz, dessen Ziel es ist, herauszufinden, was auf physiologischer Ebene passiert, wenn wir eine Melodie oder ein Lied hören.» «Es geht darum – fährt Hanser fort –, Musik und Klänge zu rehabilitativen und therapeutischen Zwecken in Krankheitssituationen und unterschiedlichen klinischen Kontexten und darüber hinaus einzusetzen». «Die Musiktherapie kümmert sich also um den Menschen, und zwar sowohl um den, der leidet, als auch um den, der zwar gesund ist, aber die eigene Lebensqualität verbessern möchte. In letzterem Fall kann die Musik helfen, neue Facetten der eigenen Persönlichkeit zu entdecken».

Wie bereits erwähnt, hat die Musiktherapie ihre systematische Methode aus der medizinischen Wissenschaft übernommen. Ihre Anwendungsbereiche reichen beispielsweise von der Erleichterung der Entspannung und Schmerzlinderung während der Wehen und der Geburt bis hin zur Ablenkung von einer Krankheit oder einer schwierigen Zeit, wie z. B. der Coronazeit. Die Musiktherapie berührt somit alle Lebensphasen – von der Schwangerschaft über die Kindheit bis hin zum Seniorenalter – und fördert zum Beispiel harmonische Beziehungen, aber auch mnemotechnische Fähigkeiten. «Musik ist in der Lage, die Zeit zu überwinden», betont die Professorin. «Aus diesem Grund bezeichne ich sie als „Jungbrunnen“ oder „Zeitreisekapsel“. Das Hören eines bestimmten Liedes oder einer bestimmten Melodie kann uns in eine Zeit zurückversetzen, in der wir uns gut gefühlt haben. In der Folge fühlen wir uns automatisch körperlich besser, unser Herzschlag verlangsamt sich und unsere Atmung wird reguliert». 

«Musiktherapeutinnen und -therapeuten – erläutert Hanser – sind spezialisierte Allrounder, die nicht nur über die für Musiker typischen musikalischen und expressiven Fähigkeiten sowie über medizinisches Wissen verfügen, sondern auch ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl besitzen und bereit sind, sich auf Situationen mit psychischen und physischen Problemen einzulassen. Die Musiktherapie erfordert nämlich einen ständigen Dialog mit dem Gegenüber, der darauf abzielt, den individuellen Musikgeschmack herauszufinden, um Melodien vorschlagen zu können, die zur Verbesserung der körperlichen und zugleich sozialen Lebensqualität beitragen, indem sie beispielsweise helfen, Emotionen zu regulieren und unterschiedliche Gemütszustände – von positiven bis hin zu negativen – zu bewältigen». «Es geht darum, eine wahre musikalische Biografie des Gegenübers zu erstellen», so die Expertin abschliessend: «So sehr die Musik in gewisser Hinsicht universell bzw. ein fester Bestandteil jeder Kultur ist und so sehr wir alle „musikalische Wesen“ sind (die auf Rhythmus reagieren), so individuell reagiert jeder von uns auf Klänge, Lieder und Melodien. Deshalb gilt es, in jeder Musiktherapiesitzung im Hier und Jetzt die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten zu ermitteln, die gleichermassen rezeptiv wie aktiv an den Sitzungen teilnehmen».