kultur und gesundheit

Ein neues Studienfach für das Medizinstudium? Die Kunst

Mittwoch, 6. April 2022 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

Keiner von uns möchte von einem Arzt behandelt werden, der an Burnout leidet oder der sich nicht die nötige Zeit nimmt, um uns zuzuhören und die Symptome, die unser Körper entwickelt, zu beurteilen. Und heben Sie stattdessen die Hand, wenn Sie nicht mindestens ein Mal in der unangenehmen Situation waren, eine Arztpraxis etwas verägert über die Geschwindigkeit zu verlassen, mit der Sie der Arzt oder die Ärztin untersucht haben! Nun, gute Nachrichten am Horizont: Es gibt ein spezielles Medikament, das den Ärzten helfen kann, sie empathischer zu machen und ihre Beobachtungsgabe zu stärken. Sie heisst „Kunst“.

In den Vereinigten Staaten wird sie bereits seit mehreren Jahren eingesetzt. In der Schweiz noch nicht, während sie in Italien seit 2014 dank der Arbeit von Vincenza Ferrara, Direktorin des Labors für Kunst und Medical Humanities der Fakultät für Pharmazie und Medizin der Universität La Sapienza in Rom, sowie wissenschaftliche Leiterin und Koordinatorin des Projekts VTS (Visual Thinking Strategies) Italia, angewendet wird. 

Ein wegweisendes Projekt, das von Ferrara, das im Kanton Tessin anlässlich des Live-Streamings der Versammlung mit dem Titel „Die Rolle der Kunst in der medizinischen Ausbildung“ vorgestellt und von der Stiftung Fondazione Sasso Corbaro am 15. März 2022 veranstaltet wurde. Mit der einführenden Begrüssung von Giovanni Pedrazzini, Professor und Dekan der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera Italiana, wurde der Abend durch die Überlegungen von Enzo Grossi, Dozent für „Kultur und Gesundheit“ an der Universität Turin und wissenschaftlicher Berater an der Fondazione Bracco und der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung, eröffnet. Wir erleben gerade einen sehr wichtigen und „wunderschönen“ Moment für die Medizin, sagte Grossi: «Wir sind dabei, die Verbindung zwischen Kunst und Gesundheit zu erkennen». Kurzum, wir sind nicht nur Beine und Arme, und das bedeutet, dass jeder von uns nicht nur ein „biologischer Mensch“ ist, da die Perfektion unserer Natur auch mit unserer Kultur verbunden ist. 

Überlegungen, die gelten, wenn es um das Wohl der Patienten geht - ein Thema, dem vor kurzem auch der Universitätskurs an der USI «Kultur und Gesundheit» sowie das gleichnamige Schweizer Forum gewidmet wurden, die von der IBSA Foundation und der Stadt Lugano organisiert wurden - aber auch um das Wohl der Ärzte. 

Anlässlich des von der Stiftung Fondazione Sasso Corbaro veranstalteten Abends, zeigte Professorin Ferrara - ausgehend von Erkenntnissen unter Studenten, die über individuelle Fragebögen und Gespräche mit Medizindozenten „überwacht“ wurden - die Vorteile auf, die sich aus der Einbeziehung künstlerischer Disziplinen in eine medizinische Ausbildung ergeben. All dies lag bereits 1992 in der Luft, als die Weltgesundheitsorganisation erstmals betonte, wie wichtig es ist, im Rahmen von Schule und Ausbildung, die sogenannten „Life Skills“ zu trainieren, d. h. die Fähigkeiten, die zu „positiven und anpassungsfähigen Verhaltensweisen führen, die in der Lage sind, den Einzelnen in die Lage zu versetzen, die Anforderungen und Herausforderungen des täglichen Lebens effektiv zu bewältigen.“ Für einen Arzt bedeutet dies beispielsweise, die beruflichen Aufgaben durch Stressbewältigung besser erfüllen zu können, ohne bei der ersten Diagnose Halt zu machen. 

Diese Aufforderung - erzählt die Dozentin Ticino Scienza - wurde in den Vereinigten Staaten aufgenommen, wo seit einigen Jahren mehrere medizinische Universitäten (Yale und Harvard, um zwei von absolutem Prestige zu nennen) damit begonnen haben, den Studenten Führungen durch Kunstmuseen anzubieten. Aber auch die Cornwell University in New York bringt die Medizinstudenten seit einiger Zeit in die Frick Collection (Porträtgalerie): Ziel ist es, «die von den Künstlern gezeichneten Gesichter zu besprechen und zu analysieren, um die Emotionen und Gefühle „anderer“ verstehen zu lernen». 

Um in Europa ähnliche Erfahrungen zu machen, ist eine der wenigen (fakultativen) Möglichkeiten, die Medizinstudenten angeboten wird, das Studium an der Universität La Sapienza in Rom im Rahmen des Studiengangs in Medizin und Chirurgie „C“. Diese Möglichkeit haben auch die Studenten des Master-Studiengangs in Pflege- und Hebammenwissenschaften „A“. Diese didaktischen Aktivitäten sind Teil eines Pilotprojekts, das den jungen Menschen seit 2014, unter der Leitung von Professorin Ferrara, anbietet „über Kunst zu debattieren“ - auch wenn in Wirklichkeit alles etwas komplexer ist, wie die Dozentin erklärt: «Bei Medizin beginnen wir mit den Studenten des dritten Studienjahrs. Während meines Kurses stelle ich eine Reihe von Gemälden und anderen Kunstwerke vor und fordere jeden Studenten auf, Hypothesen über den Inhalt dessen, was er sieht, zu formulieren und visuelle Beweise zur Unterstützung vorzubringen. Es folgt danach eine Gruppendiskussion und erst am Ende verrate ich, was das Bild darstellt, indem ich die Methode der Visual Thinking Strategies anwende».
Die Komplexität und Relevanz der Diskussionen für den medizinischen Bereich wächst mit dem vierten und fünften Studienjahr. Im vierten Jahr wird das aktive Zuhören eingeführt: Einem der Teilnehmer wird ein Bild zugewiesen, in einigen Fällen sogar mit Krankheitselemente, wie zum Beispiel das Selbstporträt von Dick Ket, das Anzeichen von Fallot-Tetralogie, eine angeborene komplexe Herzerkrankung, enthält. Der Student muss danach den anderen beschreiben, was er sieht, die das, was sie aus der Beschreibung hören, zeichnen. Im vierten Jahr werden zudem ikono-diagnostische Übungen angeboten: In Gruppen werden die Studenten aufgefordert, Pathologien in Kunstwerken zu entdecken. «Man denke - sagt Professorin Ferrara - an den Schlafenden Amor von Caravaggio, ein Gemälde, das ein Kind darstellt, dessen Rachitis von einigen Studenten erkannt wurde, indem sie das Werk durch den Prozess der Visual Thinking Strategies beobachteten. Wir erinnern daran, dass die VTS eine Lehrmethode ist, die auf der Untersuchung basiert, die die Fähigkeit des Studenten verbessert, Bilder und Informationen durch Beobachtung und Diskussion visueller Kunst zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren.

Im fünften Studienjahr wird den Studenten dann ein Bild zugewiesen, das mit einer medizinischen Disziplin verbunden ist («oft haben wir auf dermatologische Probleme zurückgegriffen - betont Ferrara - in enger Zusammenarbeit mit einem Kollegen Dermatologen») und die Studenten kommen zu einer Diagnose, indem sie das gleiche Verfahren nachahmen, das in früheren Jahren an Kunstwerken angewendet und ausgeübt wurde.

Kurzum, wir sprechen nicht über Kunsttherapie, narrative Medizin (die Lesen und Erzählen verwendet) oder gar die Aufnahme von Medizingeschichte oder Kurse in Bioethik in den Lehrplan des Medizinstudiums (was jedoch bereits an mehreren Universitäten in Europa der Fall ist). Es handelt sich vielmehr, um eine radikalere Revolution, die die vom Positivismus des 19. Jahrhunderts initiierte ergänzt. «Wenn der Positivismus - so Ferrara - die Definition und Anwendung der Medizin als exakte Wissenschaft beliebt gemacht hat, die definierte, definierbare und objektive Parameter misst und wiederentdeckt, verstehen wir heute die Bedeutung, eine kontextuelle und psychosoziale Analyse des Patienten vorzunehmen, und den Arzt der behandelten Person näher zu bringen (den der Einsatz instrumenteller Untersuchungen ohne eine genaue semiotische Analyse entfernt hatte).» 

Man darf nicht vergessen, dass der Wendepunkt zwischen den sechziger und siebziger Jahren durch die in den Vereinigten Staaten begonnene Studien kam als man die Probleme erkannte, die einem medizinischen Modell innewohnen, das die medizinische Semiotik, d. h. die Untersuchung und Beobachtung der Symptome und Anzeichen, in den Hintergrund stellt (ein Begriff, der verwendet wird, um jene signifikanten Krankheitsindikatoren anzugeben, die ein Arzt verwenden kann, um eine endgültige Diagnose zu stellen). Die Medizin hat beispielsweise begonnen, sich mit „falsch positiven Ergebnissen“ auseinandersetzen, die auf Messfehler zurückzuführen sind, die das Vorhandensein einer Krankheit festgestellt haben, obwohl es in Wirklichkeit keine gab; während sich die Gesundheitseinrichtungen des Anstiegs der Gesundheitskosten proportional zur wachsenden Zahl der angeforderten instrumentellen Diagnoseuntersuchungen bewusst geworden sind. Darüber hinaus wurde ab dem ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre und dank der Arbeit der WHO die Definition von Gesundheit neu formuliert, die nicht nur „das Nichtvorhandensein der Krankheit ist, sondern sowohl vom biologischen als auch vom psychologischen und sozialen Aspekt abhängt“, mit „der Fähigkeit, sich angesichts sozialer, physischer und emotiver Herausforderungen anzupassen und selbst zu verwalten“, die neue Grundlagen zum Nachdenken über die Rolle der Pflege und damit der Fachkräfte in diesem Bereich legt.
Und für eine Rückbesinnung auf die medizinische Diagnostik, die sich nicht ausschliesslich auf instrumentelle Untersuchungen, sondern auf die Beobachtung der Symptome durch den Arzt stützt und den Arzt wieder mit dem Patienten verbindet, ist die Kunst ein wichtiger Verbündeter: «Wir haben gesehen - so Ferrara abschliessend - dass die künstlerische Sprache, insbesondere die nonverbale, Fähigkeiten entwickelt, wie die Fähigkeit, Gesten, Blicke und Positionen zu beobachten, die aktives Zuhören, Empathie und Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeiten fördert. Sie verstärkt die Fähigkeit, „sich Zeit zu nehmen“, da vor einem Kunstwerk das Nachdenken über die Bedeutung dessen, was vor einem liegt, nicht unmittelbar erfolgt, sondern Pausen und Überlegungen erfordert, wodurch der Prozess des Problem Solving (Kompetenz, Probleme zu lösen) und Fähigkeiten zum kritischen Denken, um Entscheidungen zu treffen, gefördert wird. Und schliesslich versetzt die Kunst das Pflegepersonal in eine Komfortzone, in der der Stress in Arbeitskontexten begrenzt wird».
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(Auf dem Foto oben Professorin Vincenza Ferrara bei einem Museumsbesuch mit Medizinstudenten)