kultur und gesundheit

Die erste Vorlesung des neuen Kurses an der USI, Enzo Grossi: «Kultur kann unser Leben verlängern»

Sonntag, 17. Oktober 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

von Paolo Rossi Castelli

Am Montag, den 18. Oktober, beginnt um 18 Uhr im Mehrzwecksaal des Campus Est in Viganello der Universitätskurs über den Zusammenhang zwischen Kultur und Gesundheit. Organisiert wird er von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der USI in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Lugano und der IBSA-Stiftung für wissenschaftliche Forschung. Das Thema der ersten Vorlesung, die allen (nicht nur den Studierenden) offensteht, lautet «Kunst, Kultur, Gesundheit und Wohlbefinden. Die Bedeutung von Kunst und kultureller Teilhabe für die Gesundheit: ein Überblick». Der Eintritt ist für alle frei, eine Voranmeldung ist nicht erforderlich. Personen ab 16 Jahren müssen jedoch ein Covid-Zertifikat vorlegen und selbstverständlich eine Maske tragen.
Es sind insgesamt sieben Vorlesungen geplant, die bis zum 3. Dezember montags (ausgenommen am 1. November zu Allerheiligen) abgehalten werden. Alle Lehrveranstaltungen sind ähnlich aufgebaut und zeichnen sich im Vergleich zu klassischen Vorlesungen durch ein innovatives Format aus. Die Einleitung der Vorlesungen sowie deren Leitung übernimmt Professor Enzo Grossi, Kurskoordinator und Autor des Buches «Cultura e salute, la partecipazione culturale come strumento per un nuovo welfare» (auf dt. «Kultur und Gesundheit, kulturelle Teilhabe als Mittel für neuen Wohlstand», Springer-Verlag). Ab der zweiten Vorlesung steht ausserdem ein Vortrag eines extern zugeschalteten Experten und im Anschluss daran ein Dialog bzw. eine Debatte zwischen zwei weiteren, im Hörsaal anwesenden Experten auf dem Programm. Zur ersten Vorlesung waren der Psychiater Graziano Martignoni und Emiliano Albanese, Professor für öffentliche Gesundheit an der USI, eingeladen. 

Wie kam es eigentlich zu der Idee, einen derartigen Kurs einzuführen, der unter anderem hinsichtlich der Teilnahmebedingungen sehr speziell ist (er steht nämlich, wie bereits erwähnt, nicht nur den Studenten der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften, sondern auch anderen Bürgern offen)?

«Wir wollten ein „Fenster“ zu Aspekten öffnen, die im Medizinstudium normalerweise nicht berücksichtigt werden», erklärt Grossi. «In der Regel lernen die Studenten, Krankheiten zu behandeln (nur die Krankheiten, und zwar aus rein technischer Sicht), ohne den Menschen in seiner Gesamtheit zu betrachten bzw. ohne Berücksichtigung des familiären und sozialen Umfelds, der Hoffnungen, Ängste, und Bedürfnisse. Dabei wird immer deutlicher, dass diese Elemente für die Gesundheit (im weitesten Sinne) eines Patienten von grundlegender Bedeutung sind. Auch die Auseinandersetzung mit Ästhetik und Kultur spielt eine wichtige Rolle, wie die wachsende Zahl wissenschaftlicher Studien in diesem Bereich zeigt (Studien, die auf denselben Kriterien basierend durchgeführt werden, wie jene, die zum Beispiel in der Erforschung neuer Medikamente Anwendung finden). Es wurden ausserdem zahlreiche Beobachtungsstudien durchgeführt, in deren Rahmen Zehntausende von Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg (bis zu zwanzig Jahren) begleitet wurden, um regelmässig die Wirkung von Kunst und Kultur zu messen.»

Können Sie konkrete Beispiele nennen?
«Wie Daniele Finzi Pasca gegenüber Ticino Scienza überzeugend darlegte, kann sich Theater als eine wirksame Therapie erweisen. Es gibt jedoch auch viele Beispiele für die positive Wirkung der Tanztherapie, insbesondere bei Parkinson-Patienten. Darüber hinaus möchte ich auf die Situation in Kanada und Grossbritannien hinweisen, wo die behandelnden Ärzte in bestimmten Fällen einen Museumsbesuch verschreiben können, und die Kosten für die Eintrittskarten vom öffentlichen Gesundheitsdienst erstattet werden. In Finnland hingegen ist es mittlerweile seit zehn Jahren Pflicht, im Falle einer stationären Behandlung im Krankenhaus zusätzlich zu den rein medizinischen Therapien ein individuelles Kulturprogramm (Lese- und Musiktipps und vieles mehr) für den Patienten zusammenzustellen. Was die Schweiz anbelangt, so möchte ich eine interessante Studie erwähnen, die von Paolo Paolantonio, Forscher am Konservatorium Lugano, koordiniert wurde und sich mit der (positiven) Wirkung von Musik befasst, die eine Gruppe von Konzertmusikern direkt in Seniorenheime brachte. Mittlerweile wird Musik aber auch in Arztpraxen, in denen Chemotherapien verabreicht werden, eingesetzt (da sie gegen Übelkeit hilft), während in zahlreichen Krankenhäusern zu therapeutischen Zwecken Zeichnungen und Gemälde oder andere Bilder an den Wänden hängen. Zu den ersten zählte mit einer Reihe von „Wandmalereien“ das auf Geburtshilfe und Gynäkologie spezialisierte Turiner Krankenhaus Sant’Anna».

Warum sind Kunst und Kultur aus biologischer Sicht im wahrsten Sinne des Wortes gut für unsere Gesundheit?
«Es handelt sich um hochkomplexe, teils noch ungeklärte Mechanismen. Zweifellos sind epigenetische Faktoren im Spiel: Durch die Auseinandersetzung mit der Ästhetik (je nach Vorliebe Musik, Kunst usw.) wird also die Expression bestimmter Gene (bestimmter Abschnitte des genetischen Codes) verändert. Gleichzeitig nimmt die Anzahl der Verbindungen zwischen den Nervenzellen zu, und damit unter anderem auch der Wunsch nach gesellschaftlicher Teilhabe, wodurch das Gefühl von Einsamkeit reduziert wird. Auch das Vertrauen in andere wächst, und es kommt zur Aktivierung von Neurohormonen, die Cortisol (das Hormon, das der Organismus in Stresssituationen produziert) bekämpfen. Das Ausleben der eigenen Leidenschaften bringt Erfüllung und löst ein Glücksgefühl aus, das mitunter lange anhalten kann. Schliesslich ist erwiesen, dass man länger lebt, wenn man glücklich ist.» 

Es ist jedoch nicht einfach, den Grad von Glück zu definieren ... 
«Inzwischen gibt es verschiedene Systeme zur Messung des Gemütszustandes: Kurz gesagt, dank immer ausgeklügelterer „Skalen“ zur Messung der subjektiven Entwicklung können wir das Glück genau einschätzen. Bis vor 20-30 Jahren beschäftigten sich Psychologie und Psychiatrie hingegen nur mit kranken Menschen. Seither hat sich einiges verändert, wie zum Beispiel im Grunde auch der Begriff des Glücks selbst: Man ist von einer „hedonistischen“ (momentanen) zu einer „eudämonistischen“ Auffassung – um einen Begriff zu verwenden, der bereits von den Philosophen der griechischen Antike geprägt wurde (dem Glück kommt eine spezifische Funktion zu, auf deren Grundlage man bestimmte Erfahrungen als erfüllend betrachtet und einen Teil des eigenen, sowohl gegenwärtigen als auch zukünftigen Lebens gestaltet) – übergegangen.» 

Sie meinten vorhin, Glück verlängere das Leben ...
«Das ist richtig. Im Englischen gibt es sogar einen Spruch, der die Sache gekonnt auf den Punkt bringt: „Happy people live longer“. Etwas abstrakter betrachtet, lässt sich sagen, dass sich auch eine regelmässige Teilnahme an Kultur- und Freizeitaktivitäten positiv auf die Langlebigkeit auswirkt: Diejenigen, die in ihrer Freizeit ihren Leidenschaften (Kultur, aber auch Unterhaltung) nachgehen und jährlich an mehr als 80 Aktivitäten/Veranstaltungen/Anlässen in den Bereichen Kultur und Freizeit teilnehmen, verlängern ihr Leben um durchschnittlich 10-15 Jahre, eben weil sie zufriedener und glücklicher sind.»

Was könnte der nächste Sprung nach vorn sein?
«In der traditionellen chinesischen Medizin wurde der Arzt bezahlt, wenn sein Patient nicht krank wurde. Kurzum, er erhielt weder eine Vergütung für die „Leistung“ noch für die Therapie. Würden auch wir diesen Ansatz anwenden, so wäre das eine Revolution!»