kultur und gesundheit

Vierte Vorlesung des Kurses USI, Antonella Delle Fave: «Als die Psychologie das Glück entdeckte»

Sonntag, 14. November 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

Kultur, Gesundheit, aber auch Glück: Dieser „Triade“ ist die vierte Vorlesung des Zyklus gewidmet, die im Campus Est (Via La Santa 1 in Viganello) von der Università della Svizzera italiana (USI) in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano und der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung organisiert wird. Der Termin ist am 15. November um 18 Uhr. Genauer gesagt lautet das Thema der Vorlesung (die auch einem Publikum von Nicht-Studenten kostenlos offen steht) „Die Suche nach dem Glück. Geist-Köper: Wie Kultur zur Vorbeugung und Behandlung stressbedingter Erkrankungen beitragen kann“. Das Programm beinhaltet eine Einführung durch Professor Enzo Grossi, Kurator des Kurses und eine Intervention „aus der Ferne“ durch Antonella Delle Fave, ordentliche Professorin für Allgemeine Psychologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Mailand. Über diese Themen unterhalten sich danach der Regisseur Daniele Finzi Pasca und die Molekularbiologin Greta Guarda.

Fragen nach dem Glück begleiten den Menschen seit Jahrtausenden und sind transversal zu verschiedenen Disziplinen und unterschiedlichen Kulturen, sind aber erst in jüngster Zeit in den Interessenbereich der Psychologen eingedrungen. «Lange hat sich die Pychologie nicht mit dem Glück beschäftigt - erklärt Antonella Delle Fave Ticino Scienza - da sie sich eher darauf konzentriert hat, uns zu sagen, was mit uns nicht stimmt, und versteckte Schwierigkeiten und Probleme ans Licht zu bringen, um sie zu lösen. Heutzutage wird jedoch im psychologischen Bereich viel Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die Ressourcen und Stärken der Personen zu entdecken, um ihnen zu helfen, positive und nachhaltige Veränderungen zu bewirken. Kurz gesagt wurde klar, dass die Überwindung einer Depression oder ein Leben ohne Angstzustände nicht bedeutet glücklich und gesund zu sein. Es wurde die positive Psychologie geboren, der die Intuition zugrunde liegt, dass Glück nicht nur Nichtvorhandensein von Kummer ist».

Frau Professor, wie ist dieser neue Zweig der Psychologie entstanden, der - so könnte man vielleicht sagen - sich mit dem beschäftigt, was funktioniert?
«Zu Beginn haben sich im Westen die Philosophen des antiken Griechenlands mit dem Glück auseinandergesetzt, die - sagt Delle Fave - als erste zwischen hedonischem (d. h. verbunden mit Dimensionen von Freude und positiven Emotionen) und eudämonischem Glück (was die Tendenz des Menschen betrifft, sich in einem allgemeinen Kontext der Verbesserung der Gesellschaft zu verbessern). Diese Einteilung setzt sich bis heute fort (mit mittelalterlicher Klammer), wurde jedoch durch die für die Renaissance und dann für das Zeitalter der Aufklärung typische Betrachtung des Glücks bereichert, hauptsächlich durch die angelsächsischen Studien, die begannen, Glück mit wirtschaftlichem und sozialem Wohlergehen zu verbinden, unter utilitaristischem und messbarem Gesichtspunkt. In den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde genau diese Vorstellung von Glück von zahlreichen Ökonomen und Soziologen aufgegriffen. Erst seit dem Jahr 2000, mit einer dem Thema gewidmeten Sonderausgabe der wissenschaftlichen Fachzeitschrift American Psychologist, können wir behaupten, dass die Psychologen, die lange Zeit auf den Behandlungsprozess konzentriert waren, begonnen haben, sich mit rigorosen Instrumenten und durch systematisches Studium dem optimalen Funktionieren des Individuums zu widmen. Man hat sich gefragt, wie man eine wissenschaftliche Methode anwenden kann, um positive und nachhaltige Veränderungen zu bewirken».

Worin besteht also diese Wissenschaftlichkeit, die die positive Psychologie von der Erstellung einfacher Rezepte für ein gutes Leben unterscheidet?
«Die positive Psychologie ist eine empirisch belegte Wissenschaft, die als positiv beurteilte Prozesse mit standardisierten Erkennungsinstrumenten rigoros untersucht, ohne jedoch den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Ziel ist es, Menschen zu neuen Denk- und Handlungsweisen zu verhelfen, die (nach dem in den USA von Carol Ryff entwickelten Modell des psychologischen Wohlbefindens) sechs Dimensionen einbeziehen: Selbstakzeptanz, Autonomie, Beherrschung der Umwelt, Verfolgung von Lebensabsichten, persönliches Wachstum und positive Beziehungen zu anderen».

Verlagert die positive Psychologie demnach den Schwerpunkt ihres Interesses über klinische Situationen und psychische Störungen hinaus?
«Die positive Psychologie rückt die positiven Ressourcen und das Potential des Einzelnen in den Mittelpunkt, suggeriert, dass Glück erreichbar und ein Ergebnis ist, das Menschen durch ihr eigenes inneres Gleichgewicht und beispielsweise durch Zuweisung von Sinn und Bedeutung des Lebens, Kohärenz, Dankbarkeit und Förderung von Stärken und Tugenden erreichen können».

Gibt es auf wissenschaftlicher Ebene Beweise dafür, dass hohe Indikatoren für „positive Gesundheit“ schützen und Unwohlsein verhindern können, vor allem in einer heiklen und komplexen Zeit, wie der, die wir gerade erleben? 
«Ganz gewiss. Die Coronavirus-Pandemie hat gezeigt, dass einige Personen in der Lage waren verschiedene individuelle und relationale Ressourcen zu mobilisieren und so „die Einbrüche“ des persönlichen Wohlbefindens auszugleichen. Der Begriff „Resilienz“ ist andererseits mit der Ausbreitung des Virus in die Alltagssprache eingegangen, die uns zu Schliessungen und starken Einschränkungen des hedonischen Glücks gezwungen hat, aber gleichzeitig zur Wiederentdeckung von Ressourcen geführt hat, um das von der Pandemie verursachte Unwohlsein auszugleichen. Unlängst habe ich an einer Studie gearbeitet, die in den ersten Monaten der Pandemie über das Gesundheitspersonal in der Lombardei durchgeführt wurde. Aus dieser Untersuchung geht hervor, dass 40% der Befragten posttraumatische Belastungsstörungen hatte, diese Symptome jedoch durch die Wahrnehmung von Wohlbefinden und positiver psychischer Gesundheit ausgeglichen werden konnten». 

Ein weiterer Aspekt, der, insbesondere während der ersten Covid-Welle, die durch diverse Einschränkungen und Schliessungen gekennzeichnet war, daraus hervorgeht, ist die Veränderung der künstlerischen Produktionen sowie die starke und vielleicht unerwartete Nutzung kultureller Online-Aktivitäten (Ausstellungen, Treffen, Konzerte). Jetzt, wo sie wieder öffnen, sind die Räume voll... Macht uns Kultur glücklich?
«Ich kann Ihnen nur antworten, indem ich an die jüngste Erfahrung denke, die ich als Zuschauerin erlebt habe, als ich nach zwei Jahren Abwesenheit ins Theater in Mailand zurückgekehrt bin. Es war eine starke Emotion, die ganz sicher vom gesamten Publikum geteilt wurde, das diesen Moment erlebte. Kultur spielt sicherlich eine zentrale Rolle für unser Wohlbefinden».