kultur und gesundheit

Siebte Vorlesung des Kurses USI, Alfredo Raglio: «Musik ist zunehmend eine echte Therapie»

Samstag, 4. Dezember 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

Musik ist eine der unerklärlichsten Künste, über die sich Gelehrte, Philosophen und Wissenschaftler je Gedanken gemacht haben. Bereits im antiken Griechenland, von Platon bis Aristoteles - um zwei wichtige Namen zu nennen - hat man sich über die Bedeutung der Melodien und die Nützlichkeit, sowie die realen Eigenschaften der Musik Gedanken gemacht. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine gemeinsame und verallgemeinerte Auffassung bestätigt: Musik ist ein Allheilmittel für die Gesundheit. Aber warum und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es diesbezüglich? Auf diese Frage versucht man anlässlich der Vorlesung zu „Musik, Seele und Körper. Der Beitrag der Musik als Instrument zur Behandlung und Förderung der Gesundheit“ eine Antwort zu geben, die am 6. Dezember im Mehrzwecksaal des Campus Ost in Viganello (Lugano) stattfindet und den Zyklus „Kultur und Gesundheit“ abschliesst, der der Öffentlichkeit (kostenlos) zugänglich ist und von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana, in Zusammenarbeit mit der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und der Kulturabteilung der Stadt Lugano angeboten wird. Wie bei den vorangegangenen Veranstaltungen wird auch diese von Professor Enzo Grossi eingeleitet und geleitet, während Markus Poschner, Dirigent und Silke Gillessen Sommer, Onkologin, an der Diskussion teilnehmen werden. Eröffnet wird die Vorlesung von Alfredo Raglio, Experte für Musiktherapie, der „aus der Ferne“ zugeschaltet wird. Wir haben ihn gebeten, uns dabei zu helfen, die therapeutische Macht der Musik zu verstehen.

Doktor Raglio, aus wissenschaftlicher Sicht ist eine Musikveranstaltung eine Ansammlung von Klängen unterschiedlicher Tonhöhe, Dauer und anderer messbarer Merkmale. Ist ihre Auswirkung auf unser Gehirn ebenso greif- und messbar?
«Die wissenschaftliche Literatur - antwortet Raglio - gibt Antworten auf einige Fragen über die Auswirkungen von Musik auf das Gehirn, indem sie mit der Untersuchung der beteiligten Prozesse beginnt und in klinischen Kontexten eine Reihe von Verhaltensweisen und physiologischen Reaktionen untersucht, die durch das Musikhören und -machen hervorgerufen werden. Beispielsweise wurden im kortikalen und subkortikalen Bereich (limbische und paralimbische Bereiche, die der emotionalen Wahrnehmung und Regulierung zugeschrieben werden) einige Gehirnareale entdeckt, die infolge der klangmusikalischen Stimulation aktiviert werden und dies zeigt, dass Musikhören nicht nur dem reinen Selbstzweck dient. Musik ruft nicht nur ein riesiges Spektrum an Emotionen hervor, von Euphorie bis Entspannung, von Freude bis Traurigkeit, von Angst bis Trost, sondern auch eine Reihe von physischen Reaktionen mit Auswirkungen auf die Durchblutung, das vegetative Nervensystem, das Herz-Kreislauf- und das Immunsystem, den Blutdruck und nicht zuletzt auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, die unseren Stresszustand reguliert».

In Bezug auf diese physiologischen Reaktionen, wie wichtig ist die Art von Musik, die man hört?
«Mehrere Studien zeigen wie unterschiedliche Arten von Musik verschiedene Auswirkungen haben: Anregende Musik zum Beispiel scheint eine Steigerung der Herz-Kreislauf-Parameter zu bewirken, während entspannende, langsame Musik, die durch verlängerte Klänge und eine melodische Prävalenz gekennzeichnet ist, diese Parameter verringert. Es geht darum, die Subjektivität zu überwinden und die Auswirkungen bestimmter spezifischer Strukturen und musikalischer Parameter zu untersuchen. Dies kann wichtige klinische Auswirkungen auf den therapeutischen Einsatz von Musik haben. Im Forschungslabor für Musiktherapie der Istituti Clinici Scientifici Maugeri IRCCS in Pavia, arbeiten wir eben daran, spezifische Anwendungsprotokolle zu definieren, die in verschiedenen klinischen Bereichen (chronischer Schmerz, Angstzustand, Stress, usw.) und in rein neurorehabilitativen Kontexten verwendet werden können».

Ist es in diesem Sinne richtig zu sagen, dass Musikhören eine ergänzende Funktion zur medizinischen und psychologischen Therapie hat? 
«Die potentiellen therapeutischen Auswirkungen des Musikhörens und -machens sind vielfältig, langfristig und durch wissenschaftliche Daten belegt. Beispielsweise tragen musikalische Aktivitäten dazu bei, das Altern zu verlangsamen, indem sie dem kognitiven Verfall im Alter entgegenwirken; Musikhören kann Stress reduzieren (und da Musik Stress reduziert, kann vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass sie auch dabei hilft, die Immunfunktionen zu verbessern). Darüber hinaus greifen Experten, die sich um Patienten mit psychisch-psychiatrischen Erkrankungen kümmern, häufig auf den therapeutischen Ansatz mit Musik zurück: Musik harmonisiert, erleichtert den emotionalen Ausdruck und die emotionale Regulierung, und schafft Kontakte auch ohne Worte. Aus diesem Grund sehen wir die Präsenz von Musik in Krankenhausabteilungen, auch in Abteilungen für Onkologie, zunehmen: Gemeinsames Musikhören ist eine wichtige Ausdrucks- und Kommunikationsform und bietet physische und emotionale Erleichterung. Generell kann man sagen, dass Musik in Krankenhäusern und Kliniken dabei hilft, die Lebensqualität und die Umgebung für Patienten und Familienangehörige zu verbessern und Situationen anzubieten, die nicht streng medikalisiert sind. Man hat also begriffen, dass Musik im Gesundheitsbereich sowohl aus rein therapeutischer als auch aus menschlicher Sicht ein ergänzendes Element zum medizinischen Eingriff ist, da Musik die emotionale und persönliche Annäherung an den Patienten begünstigt». 

Musik schafft also auch soziale Bindungen?
«Ja, mehrere Studien zeigen, dass Musik (sowie die anderen damit verbundenen motorischen Aktivitäten, zum Beispiel Tanzen) den sozialen Kontakt fördert, das zwischenmenschliche Vertrauen und die Verbindung zu anderen stärkt. Dies geschieht im Verhältnis zwischen Arzt und Patient, wo sich gezeigt hat, dass die nicht verbale Kommunikation den Aufbau einer empathischen Beziehung erleichtert, aber auch in normalen Situationen - man denke an die Mutter-Kind-Beziehung, die auf Klangparametern basiert, die der Kommunikation ein gemeinsames Gefühl vermitteln. Der Klang und die Variationen der klangmusikalischen Parameter spiegeln unsere Emotionen wider und bringen uns gleichzeitig einander näher».

Können wir in diesen Monaten der Pandemie vielleicht mit einer Aufforderung abschliessen, mehr Musik als „zartes“ Instrument zur Förderung unseres Wohlbefindens zu hören?
«In einem schwierigen Moment, wie wir ihn seit über anderthalb Jahren erleben, fördert Musikhören im täglichen Kontext zweifellos unser Wohlbefinden, schafft ein Gefühl von Erfüllung und Befriedigung, das es schafft, die psychische Belastung, die die Pandemie mit sich bringt, zumindest teilweise entgegenzuwirken. Es handelt sich um eine „Kettenreaktion“: Die Emotionen und die Beziehungen, die Musik erzeugt, dienen dazu, die Auswirkungen von Stress zu mindern und uns gut oder zumindest besser fühlen zu lassen».