kultur und gesundheit

Sechste Vorlesung des Kurses USI, Luca Ticini: «So misst das GehirnSchönheit»

Montag, 29. November 2021 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana

von Paolo Rossi Castelli

Der Begriff Neuroästhetik, wurde in den 90er Jahren vom britischen Neurobiologen Semir Zeki geprägt, um auf wissenschaftliche Weise zu erforschen, wie wir die Schönheit in einem Werk der bildenden Kunst, in der Musik, aber auch in der Umgebung um uns herum empfinden. Kurzum, „um die biologischen Grundlagen der ästhetischen Empfindung zu verstehen“, wie Zeki selbst schrieb. In den letzten zwanzig Jahren haben sich auch andere Wissenschaftler mit diesem interessanten, wenn auch in mancher Hinsicht umstrittenen Thema beschäftigt (ist es tatsächlich möglich, die genauen Nervenbahnen einer Wahrnehmung zu identifizieren, die so abstrakt ist und sich von Person zu Person ändert, wie die „Verwaltung“ der Schönheit?). Darüber spricht am Montag, 29. November um 18 Uhr im Mehrzwecksaal des Campus Est USI-SUPSI in Viganello (Lugano) ein Schüler von Zeki, Professor Luca Ticini, Dozent für Kognitive Neurowissenschaften und Direktor der Abteilung für Psychologie an der Webster University in Wien. Ticini wird „aus der Ferne“ zugeschaltet, um die sechste und vorletzte Vorlesung eines Zyklus über die Beziehung zwischen Kultur und Gesundheit, einzuleiten, die von der Università della Svizzera italiana in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano und der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung organisiert wurde. Diese Themen werden danach von dem Poeten Angelo Pusterla und dem Onkologen Andrea Alimonti „in Präsenz“ diskutiert. Eingeleitet wird die Vorlesung von Professor Enzo Grossi, Koordinator des Kurses. Der Eintritt ist frei, es wird jedoch gemäss den geltenden Vorschriften ein Covid-„Pass“ verlangt.

Professor Ticini, die Wahrnehmung von Kunstwerken und ganz allgemein von Schönheit ist stark mit Emotionen verbunden und scheinbar unmöglich einzuordnen. Was haben Sie vor allem dank der funktionellen Magnetresonanztomographie und anderer Diagnosesysteme entdeckt?

«Mehrere Forschungsgruppen - antwortet Ticini - haben die Hirnareale gefunden, die an der ästhetischen Wertschätzung beteiligt sind. Einer der vielleicht wichtigsten ist der mediale orbifrontale Cortex, der mehr oder weniger über den Augen liegt. Die Aktivität dieses Bereichs des Gehirns moduliert die ästhetische Wahrnehmung (andererseits blockiert eine Schädigung in diesem Bereich die Wahrnehmung des Schönen und allgemein von angenehmen Empfindungen: Das was in der Psychologie als Anhedonie definiert wird). Vieles muss jedoch noch geklärt werden».

Funktioniert Musikhören gleichermassen oder werden unterschiedliche Bereich aktiviert?

«Es gibt deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Kunstgattungen, da sie vor allem unterschiedliche kognitive Prozesse einbeziehen. Die interessante Tatsache ist jedoch, dass Schönheit sie vereint. Mit anderen Worten, derselbe Bereich des Gehirns (wie gesagt, der mediale orbifrontale Cortex) ist an der ästhetischen Wahrnehmung beteiligt, sei es durch das Hören eines Musikwerks, sei es aus der Bildhauerei oder aus der Malkunst». 

Löst das Betrachten eines Gemäldes, einer besonders genauen Illustration, einer künstlerische Fotografie oder eine Statue die gleichen Reaktionen aus, die ausgelöst werden, wenn wir vor anderen schönen Dingen stehen, wie ein malerischer Winkel des Meeres, ein Wald, ein Berg? Oder ist das Gehirn in der Lage, das „Etwas“ wahrzunehmen, das die Schönheit eines Kunstwerks (z. B. Botticellis Geburt der Venus) von der einer Naturlandschaft unterscheidet? Kurz gesagt, ist das Gehirn in der Lage, das Geheimnis zu erkennen, das dem kreativen Akt zu Grunde liegt?

«Es gibt einige Überlagerungen, aber auch deutliche Unterschiede. So sind die Hirnregionen, die den Genuss einer ästhetischen Wahrnehmung kodieren, teilweise überlagerbar mit denen, die bei der Wahrnehmung von Objekten anderer „Kategorien“, wie z. B. ein Gesicht oder ein Haus, aktiviert werden. Vergleichen wir jedoch die Gehirnaktivität, die in diesen beiden Situationen aktiviert wird, können wir auch eine spezifische Aktivität für die Objekte feststellen, denen wir einen künstlerischen Status zuschreiben. Kurzum, das Gehirn ist in der Lage, zumindest teilweise zu erkennen, was Kunst ist, und was nicht». 

Zeki besteht auch sehr auf dem kulturellen Substrat jeder Person, das die Wahrnehmung von Schönheit beeinflusst (beeinflussen würde)...

«Ja, dies ist ein entscheidender Aspekt. Zeki hat zum Beispiel gezeigt, dass, wenn ein Gemälde eines grossen Künstlers öffentlich ausgestellt wird, mit dem Hinweis „von einem Computer geschaffenes Werk“, es für die meisten Menschen, die es betrachten, fast vollständig an Interesse verliert und sozusagen „herabgesetzt“ wird. Wenn das gleiche Werk dagegen den richtigen Hinweis aufweist (das heisst, den richtigen Namen des Autors) und zudem angegeben wird, dass es aus einem renommierten Museum stammt, wird das Gehirn stark davon beeinflusst und auch die ästhetische Wahrnehmung ändert sich völlig. Aber damit nicht genug: Nach einigen Forschungen, die ich zusammen mit anderen Kollegen durchgeführt habe, rufen die Pinselstriche eines Gemäldes im motorischen System des Beobachters die vom Künstler ausgeführten Gesten und Bewegungen wach, was zu einem stärkeren empatischen Dialog mit der Leinwand führt und damit die ästhetische Wahrnehmung steigert. All dies gehört zur Theorie der Spiegelneuronen und zu dem was der Neurowissenschaftler Vittorio Gallese (Protagonist der fünften Vorlesung des Kurses Kultur und Gesundheit) „verkörperte Simulation“ nennt».

In einem Artikel, den Sie vor ein paar Jahren in der Beilage „La lettura“ der Zeitung Corriera della Sera geschrieben haben, gibt es einen grossen Unterschied zwischen Schönem und Erhabenem (das unterschiedliche Gehirnareale aktiviert). Ist das Schöne die Weite des Meeres, während das Erhabene Botticellis Venus ist?

«Nein, das Erhabene hat eine andere Definition. Wie Edmund Burke Mitte des 18. Jahrhunderts sagte, „erhabene Objekte sind riesig, schöne sind klein; Schönheit ist glatt und geschliffen, das Erhabene ist rau und vernachlässigt; Schönheit darf nicht dunkel sein, Grandioses muss düster und finster sein...“. Der Apollo des Belvedere (die berühmte Statue der hellenistischen Zeit, die in den Vatikanischen Museen aufbewahrt wird), der in seinen Teilen perfekt proportioniert ist, ist also schön, und der Torso vom Belvedere (das Werk von Apollonius von Athen, das immer im Vatikan steht), verstümmelt und verdreht, der erahnen lässt, was fehlt, ist dagegen erhaben. Schön ist die Rotonda von Palladio in Vicenza, erhaben ist eine Ruine in einem Park, ein Gewitter, William Turners Seestücke...».

Im Artikel der „Lettura“ gibt es auch eine überraschende Information: Die Hirnareale des Erhabenen sind dieselben, die auch für Lust und Hass, für romantische Liebe, die Wahrnehmung potentiell schädlicher Reize und sogar für die Wahrnehmung der Schönheit in der Mathematik aktiviert werden. Wie interpretiert man das alles? Haben das Erhabene und die schädlichen Reize eine gemeinsame Matrix?

«Ich glaube ja. Erhaben ist ein relativ umfassender Begriff, der mit widersprüchlichen Ereignissen verbunden wird (zum Beispiel die Verbindung des Adels der Alpen mit dem Schrecken, der Angst und der Verzweiflung, die diese hervorrufen können). Wie Kant schrieb, ist Freude nur durch Leid möglich. Es hat sich gezeigt, dass sich die Hirnareale des Erhabenen mit denen der negativen Emotionen überlagern. Insbesondere aktiviert das Erhabene den hinteren Hippocampus, der sich auch in Angstsituationen aktiviert, die mit der Interpretation der Umgebung als potentiell gefährlich verbunden sind.»

Ich bin auch von der Idee der Schönheit in der Mathematik fasziniert. Was genau bedeutet das? Wie kann Mathematik schön sein? Vielleicht ist sie es in einer ihrer wichtigen Abweichung, so wie die Musik?

«Einige Forscher, allen voran Semir Zeki, haben die Hypothese aufgestellt, dass die Gehirnaktivität des medialen orbifrontalen Cortex nicht nur an der Wahrnehmung des Schönen in der Kunst, sondern auch an Wahrnehmungen des Schönen beteiligt ist, die wir als kognitiver definieren können, so wie die Mathematik. Es gibt Beobachtungen und Studien über das Gehirn von Mathematikern. Anscheinend kann eine Formel ästhetische Wahrnehmungen generieren: Etwas, was für den Laien vielleicht nur schwer verständlich ist».

Kann die genaue Identifizierung der Gehirnmechanismen, die durch Kunstwerke aktiviert werden, Malern, Bildhauern, aber auch Schriftstellern und Musikern dabei helfen, ihre Werke „gezielter“ zu gestalten, indem sie Elemente einfügen, die besser in der Lage sind, die Bereiche des Schönen und des Erhabenen zu stimulieren?

«Viele Künstler sind daran interessiert, die Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen - ich denke, eher aus einem persönlichen Interesse an den Neurowissenschaften und den Auswirkungen dieser Disziplin, als um ihre Kreativität zu fördern. Vor allem einige Künstler haben beschlossen, sich an einem Projekt zum Dialog zwischen Neurowissenschaften und Kunst zu beteiligen und sich der von mir geleiteten Vereinigung anzuschliessen: Der Italienischen Gesellschaft für Neuroästhetik „Semir Zeki“ (http://www.neuroestetica.org). Etwas mehr darüber zu wissen, wie das Gehirn die Welt, die uns umgibt, verarbeitet, und über die Kreativität aus neurobiologischer Sicht, kann für die Konzeption eines Kunstwerks nützlich sein».