kultur und gesundheit

Musik als Heilmittel, 7. Lektion Steven Mithen: Klänge und Rhythmen liegen in unserer DNA

Montag, 26. Dezember 2022 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

Stellen Sie sich für einen Moment einen gemütlichen Abend in der Steinzeit vor, an dem ein Neandertaler nach dem Mahl am Feuer sitzt und damit beschäftigt ist, zwei Steine gegeneinander zu schlagen. Kurz darauf heben seine Gefährten Steine, verstreut liegende Knochenreste oder -splitter auf und stimmen in den Rhythmus ein. Manche klatschen mit Händen und Füssen dazu. Andere wiederum erheben sich, um sich zu den von ihren Gefährten produzierten Klängen zu bewegen. Einer beginnt, die anderen – wenn nicht sogar alle – steigen ein: Im Nu werden die Mitglieder der Gruppe in einem Gefühlsrausch aus Angst, Wut und Freude eins

Nun aber zurück in die Gegenwart: Stellen Sie sich ein beliebiges Fussballstadion vor und denken Sie an die zahlreichen Fans, die sich – ganz egal, wo auf der Welt – im gleichen Rhythmus bewegen und zur Unterstützung ihrer Mannschaft Sprechchöre anstimmen, ohne sich persönlich zu kennen: Sie erleben ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Es gibt keinen grossen Unterschied zwischen der fernen Vergangenheit und der Gegenwart. Seit zwei Millionen Jahren treten wir mit anderen Menschen in Verbindung und bewegen uns durch den Raum, indem wir Rhythmen, Melodien sowie musikalischen Wiederholungen und Harmonien folgen. Musik vermittelt ein Gefühl der Zugehörigkeit und hilft uns nicht nur, Gruppenbeziehungen aufzubauen und zu stärken, sondern auch, unseren Gemütszustand sowie unsere Emotionen, Handlungen oder Gefühle mit anderen zu synchronisieren und harmonisieren.

Laut Steven Mithen ist das aber noch nicht alles. Der an der University of Reading (Grossbritannien) tätige Archäologe und Professor gilt als einer der Pioniere der kognitiven Anthropologie, die sich mit Fossilien und archäologischen Funden befasst, um zu ergründen, wie sich der menschliche Geist entwickelt hat. Bereits seit der Urgeschichte tanzen und bewegen wir uns im gleichen Rhythmus, was darauf zurückzuführen ist, dass «unsere Entwicklung als in sozialen Gruppen lebende Individuen eng mit Musikalität verbunden ist», erklärt der Experte, der am Montag, den 5. Dezember, (um 18 Uhr in der Mehrzweckhalle des Campus Est in Viganello) in Lugano als Referent zur letzten Lektion des Kurses Musik als Heilmittel eingeladen ist, der von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano, der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und dem Conservatorio della Svizzera italiana organisiert wird. Rhythmen und Melodien begleiten uns also nicht nur in partnerschaftlichen, sondern auch in verwandtschaftlichen Beziehungen und darüber hinaus. Zudem beschränken sie sich nicht darauf, den Gruppenzusammenhalt zu fördern oder soziale Einflüsse widerzuspiegeln. Mithen bezeichnet Musikalität als coevolved system for social bonding, eine Definition, die sich nur schwer mit wenigen Worten ins Deutsche übersetzen lässt und sich auf die Tatsache bezieht, dass Musikalität – die es ermöglicht hat, umfassendere soziale Bindungen aufzubauen als andere in den Gesellschaften der Primatenvorfahren zur Verfügung stehende Bindungsmechanismen – «im Laufe der Evolutionsgeschichte unserer Spezies im menschlichen Genom kodiert wurde». 

Die Musikalität unserer Vorfahren – so Mithen – ist keine Spekulation, sondern eine Theorie, die sich auf Forschungsergebnisse aus verschiedenen Wissensgebieten stützt, die von der Geschichte und Archäologie bis hin zu den Neurowissenschaften und der Sozialpsychologie reichen. Dazu zählen erstens die aus den uns zur Verfügung stehenden menschlichen Überresten und fossilen Funden gewonnenen anatomischen Erkenntnisse (die zum Beispiel auf die Fähigkeit zur Vokalisation bei Hominiden vor der Entwicklung der Sprache hinweisen); zweitens Studien über die kindliche Entwicklung (insbesondere über die durch Lieder und Wiegenlieder entstehende Bindung zwischen Bezugsperson und Kind); drittens Entdeckungen im Bereich der Neurowissenschaften (die es uns ermöglichen, zu „sehen“, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir Lieder und Melodien hören); und viertens – und nicht zuletzt – die Forschung an Primaten. All dies lässt die Vermutung zu, dass «Musikalität eine wichtige Rolle in der emotionalen Kommunikation unserer Vorfahren spielte, indem sie empathische Verbindungen begünstigte, die nicht auf die Mitglieder derselben Gruppe oder Familie beschränkt waren, sondern viel breiter trafen». Es ist nicht so, dass  „vor“ der Musikalität in kleinen Gruppen kein Gefühl der „Gruppenzugehörigkeit“ gegeben hätte. Man denke beispielsweise an das Sozialverhalten von Gorillas und Schimpansen: Sie leben in Gruppen mit einer relativ geringen Anzahl an Mitgliedern, deren Bindungen auf dem sogenannten Grooming basieren. Hierbei handelt es sich um eine gegenseitige Fellpflege, die nicht nur dazu dient, Flöhe oder Schmutz zu entfernen, sondern auch dazu, Bindungen, Vertrauen und Nähe zwischen den Gruppenmitgliedern aufzubauen. Es ist anzunehmen, dass diese Art von sozialer Körperpflege auch schon von den Urmenschen betrieben wurde. «Als sich jedoch in der Altsteinzeit die anfangs eher kleineren Gruppen von Hominiden vergrösserten und immer mehr Mitglieder umfassten, erwiesen sich die bis zu jenem Zeitpunkt angewandten Formen der Gruppeninteraktion als zunehmend aufwändig (z. B. in zeitlicher Hinsicht), weshalb es durchaus denkbar ist, dass die Musikalität an die Stelle des Groomings trat», erklärt der Professor.

Unsere Vorfahren waren natürlich nicht von einem Moment auf den anderen in der Lage, Melodien und Musik im Sinne von Liedern, Musikinstrumenten, Tanzstilen usw., die erst viel später eingeführt wurden, und für verschiedene Kulturen spezifisch sind, zu schaffen. «Wenn in Bezug auf den Homo heidelbergensis, den Neandertaler und den Homo sapiens von Musikalität die Rede ist, ist die Gesamtheit der zugrunde liegenden biologischen Fähigkeiten gemeint, die es ermöglicht haben, musikalische Klänge und Töne wahrzunehmen und zu erzeugen», erläutert Mithen. Ebendiese Fähigkeiten haben dazu beigetragen, dass sich unsere Vorfahren in Gruppen zusammenschlossen und mit der eigenen Gruppe identifizierten. Die zwischen den Mitgliedern bestehenden Bindungen waren wiederum sowohl aus psychologischer als auch aus biologischer Sicht entscheidend für das Überleben (das Leben in der Gruppe ermöglichte es nämlich, die Anwesenheit von Raubtieren zu signalisieren und in Sachen Betreuung und Erziehung des Nachwuchses, Nahrungsbeschaffung sowie territoriale Ausdehnung und Verteidigung koordiniert zusammenzuarbeiten).

Vor etwa hunderttausend Jahren entwickelte sich dann die Sprache. Und dennoch blieb die Musikalität erhalten, die ihre verbindende Kraft vor allem im Zusammenhang mit grösseren Gruppen weiterhin ausübte. «Im Gegensatz zu Worten, die zweifellos dazu dienen, mit anderen zu interagieren und die eigenen Emotionen auszudrücken, erfordert die Musik keinerlei Kenntnisse der Sprache anderer Menschen und ermöglicht es somit, auf eine viel direktere, unmittelbarere und „umfassendere“ Weise mit anderen Menschen in Beziehung zu treten», betont Mithen. Das gemeinsame Musizieren – fährt der Professor fort – betrifft nicht den Bereich der Semantik (d. h. der Sinn der Worte des gesungenen Liedes ist nebensächlich), sondern schafft Harmonie zwischen Individuen, ja sogar zwischen Menschenmassen, ohne dass eine bestimmte Bedeutung vermittelt wird, die von allen Beteiligten auf die gleiche Weise erfasst wird. Wie verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, steigt beim gemeinsamen Singen oder Tanzen der Oxytocin-Spiegel an, was ungeachtet der von den Mitgliedern verwendeten Sprache mit mehr Freundlichkeit, Empathie und Vertrauen sowie einer engeren Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe in Verbindung gebracht wird.

Was den Bereich der Neurowissenschaften betrifft, so ist die Zusammenarbeit zwischen Archäologen und Neurowissenschaftlern wünschenswert, doch es liegt noch ein weiter Weg vor uns. Mithens Forschungsarbeit bewegt sich zum Beispiel im Spannungsfeld zwischen der fernen Vergangenheit und den neuen (zukünftigen) Grenzen der Wissenschaft: «Mich interessiert vor allem, wie Neandertaler kommunizierten», erklärt er. «Wir können annehmen, dass sie tanzen, sich rhythmisch bewegen und bestimmte Wörter und Formen der Sprache verwenden könnten, doch die Frage ist, mit welcher Gewandtheit sie dies taten. In welchem Zusammenhang standen Sprache und Musikalität? Meine Forschungsarbeit zielt darauf ab, zu untersuchen, inwieweit der genetische Code des Neandertalers, den wir nur zu einem kleinen Teil in uns tragen, die genetische Grundlage unserer Musikalität beeinflusst. Die Wissenschaft hat uns DNA-Fragmente unserer Vorfahren zur Verfügung gestellt, anhand derer sich diese und andere Fragen klären lassen».

Die enge Zusammenarbeit von Archäologie und Neurowissenschaften hilft uns nicht nur, auf wissenschaftlicher Ebene zu verstehen, wie wir als Individuen funktionieren, sondern auch, unsere gesellschaftliche Gegenwart besser zu gestalten und unsere gemeinsame Zukunft zu planen. Aus diesem Grund endet der Kurs Musik als Heilmittel nach sechs Lektionen über die heilende Kraft der Musik – in deren Rahmen verschiedene wissenschaftliche Studien präsentiert wurden, die zeigten, dass Klangerlebnisse eine echte Therapie sein können (da sie beispielsweise zur Reduktion von Stress und chronischen Schmerzen sowie zur Verbesserung der motorischen und neurologischen Funktionen beitragen) – mit einer „Rückkehr zu den Wurzeln“. «Nur wenn wir durch die Untersuchung der Vergangenheit nachweisen können, wie wichtig Musikalität tatsächlich für unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden, unser Zusammenleben und unsere sozialen Beziehungen ist, können wir die Gegenwart und die Zukunft in einer Weise gestalten, die den sozialen Zusammenhalt und die Gruppenbindung fördert», so Mithen abschliessend.