kultur und gesundheit

Kunst, Musik, Architektur:
auch das ist eine Allianz
für eine nachhaltige Zukunft

Donnerstag, 6. Januar 2022 ca. 9 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

Eine Mutter und ihre Tochter. Sie singen. Um sie herum, „in die Musik versunken“, andere Frauen mit ihren Kindern. Es handelt sich nicht um eine Geburtstagsfeier oder ein angenehmes Treffen mit Freundinnen. Es ist eine „Behandlungssitzung“, Teil eines Pilotprojekts, das in Grossbritannien gestartet wurde und sich an Mütter richtet, die unter Wochenbettdepression leiden: Der Gesang - wie aus den Zeugnissen zu entnehmen ist - hilft, da er ein Gemeinschaftsgefühl schafft und „fast meditativ“ wird; die im Kreis sitzenden frischgebackenen Mütter müssen nicht sprechen und den anderen den Grund für ihre Anwesenheit an der Musiksession, das Hier und Jetzt, erklären. Man trifft sich ganz einfach, um einen Raum zu teilen. Mit Vergnügen. Das Video wurde von Nils Fietje, Research Officer on Cultural Contexts of Health and Well-being der Weltgesundheitsorganisatione (WHO) sowie einer der Kuratoren des ersten Berichts der WHO über die Beziehung zwischen Kunst, Förderung der Gesundheit und Therapieverlauf zum Abschluss seiner Präsentation gezeigt. Der Anlass, darüber zu sprechen, war das erste Schweizer Forum „Kultur und Gesundheit - Allianz für eine nachhaltige Zukunft“, in Mendrisio und Lugano am 26. und 27. November von der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und der Kulturabteilung der Stadt Lugano, unter der Leitung von Luigi Di Corato organisiert und veranstaltet: Zwei Tage mit Treffen und Debatten über die Humanisierung der Pflege und ihrer Räume, ausgehend von wissenschaftlichen Erkenntnissen und bewährten nationalen und internationalen Praktiken.

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«Lange bevor die Menschen das Penicillin oder die Genetik kannten haben sie Musik und Kunst geschaffen. Unser Bedürfnis, unsere Hoffnungen und Ängste auszudrücken, dem was uns umgibt, eine Bedeutung zu geben und sie durch künstlerische Kreationen mit anderen zu teilen, ist so tief wie unser Bedürfnis, den Durst oder den Hunger zu stillen. Sollten wir uns also darüber wundern, dass Kunst die Gesundheit verbessern kann? Dass sie uns gut fühlen lässt?» - so begann Fietje, zugeschaltet aus seinem Haus in Kopenhagen, seine Rede: Etwa zehn Minuten, in denen der Forscher, ausgehend von den Inhalten des im November 2019 veröffentlichten Berichts der WHO, Gründe und wissenschaftliche Daten zur Unterstützung der Kombination künstlerischer Betätigungen mit herkömmlicheren biomedizinischen Behandlungen betonte. Kurz gesagt, «Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse zur Rolle der Künste bei der Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden».

Der Beweis ist in den über 900 Veröffentlichungen zu mehr als 3000 Studien enthalten, die von 2000 bis 2019 durchgeführt und vom UCL (University College London) für die WHO erfasst wurden, die die gesundheitsfördernden Wirkungen der aktiven und passiven Teilnahme an künstlerischen Betätigungen beweisen. Kurz gesagt, sei es, im Theater zu sitzen, ein Konzert zu hören, ein Buch zu lesen (aber vielleicht auch, den Garten zu pflegen - auch wenn der Bericht der WHO die gesundheitlichen Auswirkungen von Betätigungen in Zusammenhang mit Gartenarbeit oder Architektur vorerst nicht überwacht hat); oder zu tanzen: All diese Betätigungen und diese „künstlerischen“ Momente haben sich als hilfreich bei der Verwaltung der Pflege und Behandlung verschiedener Krankheiten erwiesen, neben medizinischen Therapien, für Menschen mit neurologischen Krankheiten (zum Beispiel durch Demenz oder Traumata unterschiedlicher Art), aber auch Diabetes und Übergewicht, Tumore oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und ausserdem im Rahmen der Palliativmedizin.

Nicht nur das: Es wurden die positiven Auswirkungen von Kunst und Kultur im Bereich der Prävention von Krankheiten und bei der Förderung der Gesundheit nachgewiesen: Kunst wirkt sich positiv auf die Sozialisation aus und steigert den gesellschaftlichen Zusammenhalt, dient der Prävention kognitiven Abbaus, unterstützt und stärkt die Beziehung zwischen Eltern und Neugeborenen. Schliesslich hilft sie nicht nur den Kranken, sondern auch denen, die sich um Menschen mit gesundheitlichen Problemen kümmern. Der Beitrag von Kunst und Kultur betrifft also sowohl den individuellen psychologischen Bereich (z. B. bei der Verwaltung der Emotionen) als auch den physischen (Senkung der mit Stress verbundenen Hormonspiegel oder Stärkung der Immunreaktion) und auch den sozialen (Verringerung von Einsamkeit und Isolation) sowie den verhaltensbezogenen (Begünstigung des Erwerbs „bewährter Praktiken“). «Die Anerkennung der Rolle der Künste bei der Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden - betonte Nils Fietje, in Anlehnung an den Bericht der WHO - sollte keine blosse akademische Übung bleiben, sondern die Grundlage für die Umsetzung von Massnahmen werden, die künstlerische Interventionen im Gesundheitswesen unterstützen und die zwischen verschiedenen Ländern geteilt werden können». 

DIE VORTREFFLICHEN PROJEKTE - Aber wie sieht es drei Jahre nach dem Bericht der Weltgesundheitsorganisation mit der Aufforderung aus, die medizinischen Einrichtungen konkret zu gestalten, um das physische, mentale und soziale Wohlbefinden des Einzelnen zu verbessern?
Diese Frage haben sich die Organisatoren des Forums gestellt, die so einige vortreffliche Projekte in der Schweiz, und nicht nur dort, ausgewählt haben, die auf Kunst zurückgegriffen haben, um - mit den Worten von Georges Braque, französischer Maler und Bildhauer - eine Wunde in Licht zu verwandeln. 

Das erste Beispiel für bewährte Praktiken betrifft das Kinderspital Zürich, wie der Spitaldirektor und ordentlicher Professor für Pädiatrie an der Universität Zürich (UZH), Michael Grotzer, bei seiner Intervention anlässlich des Forums sagte. Mit der Zusammenarbeit des amerikanischen Künstlers James Turrell wurden die Krankenhausräume neu gestaltet, um Platz für Licht zu schaffen (sowohl bei Tag als auch bei Nacht). Dies trägt - wie man gesehen hat - zur Verbesserung der Gesundheit der kleinen Patienten bei, unterstützt jedoch auch Angehörige und Begleiter und macht die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Ärzten und Gesundheitspersonal angenehmer. An dieser Stelle, wie Grotzer betont hat, «sollte die Tatsache, dass Licht und Farbe die Gesundheit und das Wohlbefinden beeinflussen, nicht nur für Designer und Psychologen, sondern auch für Kliniken ein Anliegen sein». 

Das zweite Beispiel, immer im pädiatrischen Bereich, kommt aus Helsinki, heisst „Soundscape“ und betrifft das Kinderkrankenhaus der finnischen Hauptstadt. Zwischen 2017 und 2018 von den Sound-Studenten in New Media MA des Media Lab der Universität Aalto entwickelt und realisiert, bietet „Soundscape“ - das dem Forum von dem Forscher, der das Projekt verfolgt hat, Antti Ikonen, präsentiert wurde - ein Design aus Farben, Materialien und sogar Klängen, um eine entspannte Klangumgebung für Kinder, ihre Angehörigen und das medizinische Personal zu schaffen. Über sechzig Lautsprecher, die in den Krankenhausräumen platziert sind, wird die Hintergrundmusik - die an fliessendes Wasser oder das Zwitschern von Vögeln erinnert, begleitet von verschiedenen Instrumenten - speziell für Kinder konzipiert, modelliert und danach (von einem Computer) programmiert, die eine andere Hörwahrnehmung haben als Erwachsene. Das Projekt wurde mit dem Grand Prix 2019 (International Sound Awards) ausgezeichnet, während das Krankenhaus 2018 den „Finlandia Prize for Architecture“ erhalten hat.

DIE GEWINNER DES NATIONALEN WETTBEWERBS KULTUR UND GESUNDHEIT - - Bei der Rede über die konkrete Auswirkung von Musik auf die Gesundheit, muss sicherlich auch an die Anwendung von Klang bei Senioren erinnert werden und an das von Paolo Paoloantonio erwähnte Projekt, Musiker, Forscher am Conservatorio della Svizzera italiana (CSI) und Gewinner eines der drei Preise des Nationalen Wettbewerbs für Kultur- und Gesundheitsprojekte in der Schweiz, der von der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und der Kulturabteilung der Stadt Lugano angesetzt wurde. Paolantonio hat die Ergebnisse von „Music in the community“ präsentiert, einem echten Musikprogramm mit zehn Sessionen, an dem von 2015 bis 2017 zweiundzwanzig Bewohner von Tessiner Altersheimen und neun Studenten des Konservatoriums mit sehr positiven Auswirkungen teilnahmen.

Ein weiterer Preis des Wettbewerbs wurde stattdessen dem Projekt von „Scintille“ von Patrizia Nalbach, Künstlerin, kulturelle Mediatorin und Musiktherapeutin, zuerkannt, das sich an Personen mit kognitivem Abbau bei Senilität (Alzheimer und andere Formen von Demenz) richtet, indem es sie die medizinischen Einrichtungen verlassen lässt und sie in Kunsträume bringt. 

Der dritte Preis ging an Roberta Pedrinis, Initiatorin des Projekts „Kunsttherapie bei der Rehabilitation des onkologischen Patienten“. Zum Schluss zwei spezielle Erwähnungen für „Theatricality meets the world of dementia: TINCONTRONLINE“ von Rita Pezzati, und „Teatro di quartiere“ von Patrizia Berger.

KRANKENHÄUSER UND MUSEEN - Bei dem Forum wurde von Tobia Bezzola (Direktor des Museo d’Arte della Svizzera Italiana) auch „In the public eye“ präsentiert, ein in Zusammenarbeit zwischen MASI selbst und dem Ente Ospedaliero Cantonale entwickeltes Projekt. Diese 2017 ins Leben gerufene Initiative - erklärte Bezzola - wurde in den folgenden Jahren mit der Platzierung von Kunstwerken in den öffentlichen Räumen des Ospedale Civico di Lugano fortgesetzt, um «denjenigen, die dort stationär behandelt werden, denjenigen, die dort arbeiten und denjenigen, die zu Besuch kommen, die Möglichkeit einer Begegnung mit Kunst in einem anderen Kontext als dem institutionellen der Museen oder Galerien, anzubieten». Die Präsenz von Kunstwerken an einem Ort, der von Leidens- und Schmerzerfahrungen geprägt ist, und an dem Gefühle der Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit erlebt werden, kann emotionale Unterstützung bieten, insbesondere weil Kunst die Fähigkeit besitzt, auf einer tiefen Ebene von der menschlichen Seele zu sprechen, die mit Worten nicht erreicht werden kann».

Immer in diesem Bereich erinnert Professor Enzo Grossi (Dozent für Kultur und Gesundheit an der Medizinischen Fakultät der Universität Turin) an die Vereinbarung zwischen dem Kunstmuseum Montreal und einer Vereinigung kanadisch-französischsprachiger Ärzte über Besuche im Museum, die vom Arzt kostenlos verordnet werden: «Es handelt sich um die weltweit erste Initiative - erklärte Grossi - die darauf abzielt, Patienten, Angehörigen und Betreuern zu ermöglichen, von den Vorteilen der Kunst für die Gesundheit zu profitieren». 

ES MUSS MEHR KOMMUNIZIERT WERDEN - «Kannten Sie einige dieser Projekte?» - hat Catterina Seia, Co-Moderatorin des Forums, das Publikum gefragt. Das Schweigen des Publikums hat gezeigt, wie viel noch getan werden muss, um diese Initiativen bekannt zu machen. «Es muss dazu beigetragen werden, das Bewusstsein zu wecken, dass Kunst und Kultur nicht nur angenehme Betätigungen sind - sagte Silvia Misiti, Direktorin der IBSA Foundation - sondern auch einen wichtigen (und wissenschaftlich nachgewiesenen) Beitrag sowohl im Bereich der Prävention von Krankheiten und der Förderung der Gesundheit, als auch in der Verwaltung der Pflege und Behandlung verschiedener Krankheiten leisten können».
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(Im Bild oben das Logo des Forums „Kultur und Gesundheit - Allianz für eine nachhaltige Zukunft“)