DIE MEINUNG

ETHZ, entscheidender
Partner für das Forschungszentrum im Tessin

Piero Martinoli
Mittwoch, 16. Februar 2022 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

von Piero Martinoli
Physiker, ehemaliger Präsident der USI

Ende Februar 2020: Der Covid fällt auch in das Tessin ein, die besonders Schwachen beginnen leider zu gehen, Schliessungen liegen in der Luft, die Zukunft verdunkelt sich. Trotz allem schreibt eine Stiftung, der ich angehöre, einen Wettbewerb für Forschungsprojekte im Bereich der Biowissenschaften aus. Die Ausschreibung steht nicht nur Forschern der neuen Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften (FacBioMed) der Università della Svizzera italiana (USI) und deren angegliederten Instituten (Institut für Biomedizinische Forschung, IRB, und Onkologisches Forschungsinstitut, IOR), sondern auch Forschern der Institute des Ente Ospedaliero Cantonale offen. Die Ausschreibung ist ein Erfolg: Bis zum Stichtag Ende Oktober gehen bei der Stiftung mehr als dreissig Projekte ein, die nach den Standards des Schweizerischen Nationalsfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FNS) erstellt wurden. Bereits eine erste Betrachtung zeigt, dass die überwiegende Mehrheit im Bereich „gut-sehr gut-ausgezeichnet“ liegt. Angesichts dieser Feststellung und der begrenzten, wenn auch wichtigen Mittel, die zur Verfügung stehen, führt die Stiftung eine gründliche und strenge Bewertung durch, die zahlreiche nationale und internationale Experten einbezieht. Schliesslich fällt Anfang April 2021 die Wahl auf sechs Projekte, die über einen Zeitraum von drei Jahren gefördert werden.

All dies, um was zu sagen? Dass es im Tessin im Bereich der biomedizinischen Forschung eine sehr rege wissenschaftliche Gemeinschaft gibt , die in der Lage ist, interessante und aktuelle wissenschaftliche Themen auszudenken und zu behandeln, und bereit ist, sich einzubringen und auszutauschen, und die in einigen Instituten ein bemerkenswertes Qualitätsniveau erreicht, das international anerkannt wird. 

Ich denke, es lohnt sich daher, einen Moment innezuhalten, um einige Überlegungen anzustellen, die ich „Tessin der Wissenschaft“ nennen würde. Vor dreissig Jahren war das Tessin eine „wissenschaftliche Wüste“, aber die Situation hat sich mit der Gründung der USI im Jahr 1996 definitiv geändert, die es unter anderem ermöglicht hat, wertvolle Kooperationen mit namhaften Partnern zu entwickeln, allen voran die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ). Ich beziehe mich auf die Gründung des Instituts für Wissenschaftliches Rechnen an der USI, die es ermöglicht hat, das Nationale Hochleistungsrechenzentrum der Schweiz (CSCS) im Tessin zu halten - das sonst an andere Ufer jenseits des Gotthards gewandert wäre - und in jüngerer Zeit auf die aktive Teilnahme der ETHZ an der Bachelor-Ausbildung angehender Ärzte durch die FacBioMed der USI: Ohne die Beteiligung der ETHZ an vorderster Front könnte sich USI heute kaum dieser wichtigen Visitenkarte für ihr Image und Wachstum rühmen. Last but not least und nicht zu vergessen: Die von IRB, IOR und USI mit der ETHZ abgeschlossenen Partnerschaftsabkommen für doppelte Lehrstühle. 

Diese zunehmende Einbeziehung der ETHZ in die wissenschaftliche Welt des Tessins müssen wir weiterführen: Sie ist von Vorteil und wir haben noch viel zu Lernen! Konkreter gesagt, um auf das in der Einleitung Gesagte zurückzukommen, bietet sich heute die beste Gelegenheit im Bereich der Biowissenschaften, wo es eine Gemeinschaft von Forschern gibt – hier denke ich vor allem an IRB und IOR, die sich in der Vereinigung Bios+ zusammengeschlossen haben, die mit ihrer Arbeit zunehmend die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf sich ziehen – die Bellinzona mit Unterstützung der ETHZ zu einem Forschungszentrum von nationaler Bedeutung im biomedizinischen Bereich machen kann. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, muss man in der Lage sein, Instrumente für die Förderung der Forschung wie die National Centres of Competence in Research (NCCR) des FNS geschickt einzusetzen, die ich innerhalb des Nationalen Forschungsrats des FNS aus meiner Teilnahme an Diskussionen zu ihrer Gründung und später als Forscher bei einem des allerersten NCCR genau kenne. Jedes NCCR vereint mehrere Forschungsinstitute/Universitäten um ein allgemeines Thema von gemeinsamem Interesse, das im vorliegenden Fall in der riesigen Galaxie der Immunologie und der Onkologie angesiedelt wäre. Es handelt sich um ein sehr wettbewerbsfähiges Instrument mit einer starken Bedeutung, die nicht nur auf wissenschaftlicher, sondern auch auf politischer Ebene, aufgrund seiner Auswirkung auf Gesellschaft und Wirtschaft. Ich bin der Meinung, dass eine „Seilschaft“, unter der Leitung der USI als „Leading House“, bestehend aus Bios+ und der ETHZ (und eventuell unter Beteiligung weiterer Schweizer Partner) heute mehr denn je reif ist, mit ansehnlichen Erfolgsaussichten um die Eroberung eines NCCR zu wetteifern. Ich erinnere daran, dass die nächste Serie von NCCR (normalerweise 5-6 Projekte) erst in drei Jahren gestartet wird: Es bleibt also Zeit für eine gründliche Vorbereitung eines Projekts. 

Zum Abschluss noch eine Überlegung. Wir müssen diesen Weg zur Annäherung an die ETHZ weiterverfolgen, indem wir einem Ansatz folgen, der auf kleine Schritte und gegenseitiges Vertrauen aufbaut: Bisher haben wir sicherlich nicht aufgegeben und nachdem ich das kürzliche Interview gelesen habe, das der Präsident der ETHZ dem Corriere del Ticino gegeben hat, bin ich überzeugter denn je. Meiner Meinung nach könnte (oder besser, sollte) diese Strategie eines Tages dazu führen, dass in der italienischen Schweiz eine vom Bund getragene eidgenössische Universitätsschule entsteht, wie es heute die ETHZ in der deutschen Schweiz und die EPFL in der französischen Schweiz sind. Es ist ein alter Traum von mir, der auf dem Dies Academicus 2016 der USI enthüllt wurde und damals auf zaghafte Zustimmung, aber auch auf Skepsis stiess. Ich bin Franco Cavalli dankbar, der die Idee kürzlich in seiner „Opinione“ neu aufgegriffen hat. Eine eidgenössische Universitätsschule würde eine entscheidende Beschleunigung geben, einerseits als Motor der Entwicklung und andererseits beim Ausstieg aus einer wirtschaftlichen Situation, die trotz lobenswerter Initiativen der öffentlichen Behörde und der Privatwirtschaft immer noch prekär und ohne jene Stärken bleibt, die der italienischen Schweiz ermöglichen würden, für die Gründung von Unternehmen mit hohem Mehrwert attraktiv zu werden. Die Geschichte zeigt uns diese positive Dynamik: Die Regionen, in denen die beiden eidgenössischen technischen Hochschulen entstanden und gewachsen sind – die Kantone Zürich und Waadt und ihre angrenzenden Gebiete – haben eine wissenschaftliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung auf höchstem Niveau erfahren und erfahren sie immer noch: Man denke nur an die Genferseeregion, die zweifellos viel von ihrem Erfolg und ihrem heutigen Wohlstand der Umwandlung der damaligen École polytechnique de l’Université de Lausanne im Jahr 1969 in eine eidgenössiche technische Hochschule verdankt. 

Eine eidgenössische Universitätsschule würde darüber hinaus auch unter einem anderen Aspekt eine Erfüllung der Vision kennzeichnen, die am Ursprung unserer Universitäten liegt. Die Herausforderung und die Hoffnung, die die USI genährt haben und weiterhin nähren bestehen in der Tat auch darin, ihr eigenes Grenzschicksal, wo die Alpen mit dem Mittelmeer interagieren, vollständig, aktiv und intelligent zu interpretieren und sich der Synthese und dem Experimentieren zu öffnen. Unser Grenzdasein ist ein Zustand, der nicht geändert werden kann und der im Gleichgewicht gelebt werden muss: Nur so können wir tatsächlich eine „italienische Schweiz“ sein, die kulturelle Brücken zwischen Nordeuropa und dem Mittelmeer schlägt und die Schweizer Pluralität mit dem Erbe der italienischen Zivilisation, und umgekehrt, bereichert. In diesem Zusammenhang würde die Präsenz einer eidgenössischen Universitätsschule in unserem Gebiet der italienischen Schweiz, ihrer Sprache und ihrer Kultur eine Anerkennung von grosser Bedeutung und nationaler Tragweite verleihen, die nicht der sterile Anspruch einer Randregion sein will, sondern im Gegenteil, die Erfüllung jenes „Liebesbeweises der italienischen Schweiz an die ganze Schweiz“ , mit dem Giuseppe Buffi die Gründung der USI beschrieb. Sicherlich handelt es sich um ein ehrgeiziges Ziel, das zumindest für mich noch zu weit entfernt liegt, um es persönlich erleben zu können, aber es sollte meiner Meinung nach immer im Hinterkopf behalten werden: Vergessen wir nicht, dass das Morgen schneller als erwartet kommt, ohne anzuklopfen, und das Ergebnis der Ideen und Visionen von heute ist! Denken wir darüber nach und arbeiten wir hart daran, es zu erreichen!