kultur und gesundheit

Die zweite Vorlesung des neuen Kurses an der USI, Alan Dilani: Besser leben dank «Salutogenese»

Sonntag, 24. Oktober 2021 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

Am Montag, den 25. Oktober, findet im Mehrzwecksaal des Campus Est in Viganello die zweite Vorlesung des Universitätskurses über den Zusammenhang zwischen Kultur und Gesundheit statt. Der Kurs wird von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der USI in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Lugano und der IBSA-Stiftung für wissenschaftliche Forschung organisiert. Das Thema der Vorlesung lautet «Lebensräume. Die Theorie der Salutogenese über die Auswirkungen von Architektur und gebauter Umwelt auf Gesundheit und Wohlbefinden» und wird von Architekt Mario Botta und Chirurg Pietro Majno-Hurst diskutiert. Die Einleitung der Vorlesung übernimmt Professor, Architekt und Forscher im Bereich der öffentlichen Gesundheit Alan Dilani, der extern zugeschaltet wird. Wir haben mit ihm gesprochen, um besser zu verstehen, was der Begriff «Salutogenese» (der in den 70er-Jahren vom Soziologen Aaron Antonovsky geprägt wurde) bedeutet, welche Rolle dieser Theorie zukommt und wie sie in unseren Lebensräumen – vom privaten Wohnraum über den Arbeitsplatz und den der Krankenpflege gewidmeten Räumlichkeiten bis hin zum urbanen Raum – angewendet werden kann.

Professor Dilani, Gesundheit und Genetik sind zwei bekannte Begriffe, die relativ häufig, allerdings selten zusammen verwendet werden. Würden Sie bitte den Begriff «Salutogenese» definieren und erklären, was man unter salutogenetischer Theorie versteht?
«Wie Sie bereits erwähnt haben, setzt sich der Begriff „Salutogenese“ aus dem lateinischen „salus“ (Gesundheit) und dem griechischen „genesis“ (Entstehung) zusammen», erklärt Dilani. «Die Salutogenese befasst sich mit den „Quellen“ der Gesundheit und stellt eine auf die Gesundheit ausgerichtete Theorie dar, die über das pathogenetische Modell hinausgeht, welches Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit versteht und sich auf die Forschung zur Behandlung von Krankheiten konzentriert. Die Salutogenese konzentriert sich hingegen auf die Entstehung, Behandlung und Prävention von Krankheiten, die sie als einen Prozess betrachtet, der von psychosozialen Faktoren, Emotionen, Erfahrungen sowie dem individuellen Lebensstil bestimmt wird. Die Salutogenese fragt also nicht nach den Ursachen von Krankheit und deren Prävention, sondern nach den Quellen der Gesundheit, also danach, wie sie entsteht und gestärkt werden kann. Die salutogenetische Theorie geht davon aus, dass alle Menschen mehr oder weniger gesund und krank sind bzw. dass es zwar Krankheiten gibt, für die wir genetisch prädisponiert sind (wie z. B. bestimmte Krebsarten oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen), wir aber mithilfe eines gesünderen und stressreduzierten Lebensstils Krankheiten vorbeugen können. Die Theorie der Salutogenese dient also dazu, den Menschen die nötigen Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, um sich auf den Pol der Gesundheit und nicht jenen der Krankheit hinzubewegen.»

Kann man also sagen, dass, wenn die Gesundheit eine Ressource für das tägliche Leben darstellt, die Gesundheitsförderung nicht in die alleinige Zuständigkeit des Gesundheitssektors fällt, sondern unterschiedliche Bereiche, wie z. B. die Architektur, betrifft?
«Ganz gewiss. Die Salutogenese ist eine Philosophie, die auf unterschiedliche Bereiche – von der städtischen Architektur bis hin zu den Gebäuden, in denen wir arbeiten und leben – angewendet werden kann, um Wohlfühlfaktoren zur Stärkung der Gesundheit und zum Abbau von Stress einzuführen. Die Architektur und die städtische physische Umwelt stehen in engem Zusammenhang mit unseren Erfahrungen, Emotionen und unserem Lebensstil, der sich entweder positiv oder negativ auf unsere Gesundheit auswirken bzw. sie stärken oder schwächen kann. Dies ist ein Aspekt, den ich hervorheben möchte: Stress entsteht durch die Qualität unserer physischen Umwelt sowie durch die psychosozialen Reize, denen wir ausgesetzt sind. Aus diesem Grund ist es notwendig, bei der Gestaltung von Räumen – von Pflegeeinrichtungen über Schulen bis hin zu öffentlichen Räumen –, darauf zu achten, dass sie regenerierend, gemütlich und erholsam wirken und das Gehirn dazu anregen, den Stress und die Belastungen des Alltags zu bewältigen. Man denke im Allgemeinen an geschlossene Räume, in denen wir einen Grossteil unserer Zeit verbringen: Die Qualität dieser Räumlichkeiten wirkt sich auf unsere Emotionen und Erfahrungen aus und beeinflusst so unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit erheblich.»

Können Sie einige Beispiele für geschlossene Räume nennen, die für Wohlbefinden von Geist und Körper sorgen?
«Man nehme beispielsweise die Alkoholprobleme der skandinavischen Länder, deren Bewohner mehrere Monate im Jahr „im Dunkeln“ leben. In diesen Fällen ist es wichtig, dass die Architektur so geplant ist, dass sie Wohlbefinden schafft, angefangen bei künstlichem Licht im Falle von fehlendem Sonnenlicht. Zu weiteren wichtigen Elementen und Faktoren zählen: Luftqualität (man denke z. B. an urbane Zentren mit Radwegen), Wasserqualität, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Baumaterialien (Marmor und Holz), Inneneinrichtung sowie Farben, Düfte und Geräusche ... Ja, auch die Geräusche: Verschiedenen Studien zufolge benötigen Menschen, die in einer geräuscharmen Umgebung arbeiten, weniger „Coping-Strategien“ (d. h. Strategien zur Bewältigung von Herausforderungen und schwierigen Situationen), um sich an ihre physische Umwelt anzupassen, und können daher ihre ganze Energie auf andere belastende Ereignisse konzentrieren. Ähnlich verhält es sich mit Architektur und Design, die Räume luftiger wirken lassen können, um das Gefühl der Enge zu verringern, das im Englischen als „sense of crowding“ bezeichnet wird. Denken Sie zum Beispiel an Studentenwohnheime: Ein Raum mit hoher Decke wird im Vergleich zu einem mit niedriger Decke bei gleicher Wohnfläche als luftiger und geräumiger empfunden. Als abschliessendes Beispiel möchte ich mein Wohnbauprojekt „Health House“ (dt. „Haus der Gesundheit“) erwähnen, das in der französischen Gemeinde Èze realisiert wurde: Der Bau wurde mit besonderem Augenmerk auf die oben genannten Faktoren im Einklang mit der Umwelt errichtet, und befindet sich im Grünen. Man bedenke, dass die Farbe Grün unsere Existenz auf der Erde symbolisiert und uns an unsere Verantwortung gegenüber unserem Planeten erinnert.»

Auf die Frage «Was tut mir gut?» geben wir allerdings unterschiedliche Antworten. Ich denke dabei an den Einfluss der Weltanschauung, religiöser Überzeugungen, der Familienstruktur, der gesellschaftlichen Organisation oder der Kultur im Allgemeinen...
«Wie Aaron Antonovsky schon sagte, verfügt sicherlich jeder von uns über ein Kohärenzgefühl, das unsere Fähigkeit bestimmt, mit Stress umzugehen und ihn zu bewältigen. Mit anderen Worten: Jeder von uns misst dem eigenen Leben eine bestimmte Bedeutung bei, verfügt über bestimmte Mittel und ein bestimmtes Mass an Zufriedenheit: eine Kombination von Faktoren, die uns hilft (oder eben nicht hilft), Stresssituationen besser zu bewältigen. Dieses Kohärenzgefühl kann man messen, und genau das habe ich zusammen mit einigen Kollegen in verschiedenen Situationen, von Arbeitsplätzen über Seniorenheime bis hin zu Gefängnissen, gemacht. In jedem dieser Fälle ist es möglich, die Umgebung, falls erforderlich, so umzugestalten, dass der Einzelne mit den Ereignissen in seinem Leben umgehen kann und somit gesund bleibt.»

Sind auch die Regierungen zur Mitwirkung aufgerufen?
«Ja, die Regierungen müssen sich das Ziel setzen, die Gesundheit zu fördern, vor allem wegen der steigenden Kosten für Gesundheit und medizinische Versorgung: Wir leben zwar länger, aber in den letzten Lebensjahren oft schlecht, weshalb wir eine medizinische Betreuung benötigen, die für den Staat kostspielig ist. Daher sind die Bürgermeister aufgerufen, insbesondere in urbanen Zentren die Lebensqualität zu verbessern, indem sie zum Beispiel die Mobilität zu Fuss oder mit dem Rad als wirksame und wichtigste Massnahme zur Prävention chronischer und degenerativer Erkrankungen fördern und belohnen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass klare Regeln für die Verpflegung in Schul- und Betriebskantinen oder Restaurants aufgestellt und durchgesetzt werden, die zur Zubereitung salzarmer Gerichte auffordern oder eine Besteuerung von Produkten mit hohem Zucker- oder Alkoholgehalt, die zu den Ursachen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und anderen Krankheiten zählen, vorsehen. Es gibt noch einen weiteren Grund, den Regierungen meiner Meinung nach im Hinblick auf die Förderung des psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens ihrer Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen sollten: Gesund zu sein bedeutet, kreativer zu sein. Kurzum, wenn man gesund ist und in einer Umgebung lebt, in der man sich wohlfühlt, ist das Gehirn – unser wichtigstes Grundkapital – imstande, all seine Funktionen einwandfrei zu erfüllen.»

Eine letzte, unumgängliche Frage: Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie samt den verschiedenen Ausgangsbeschränkungen und Lockdowns auf unser Wohlbefinden?
«Corona hat einerseits offensichtlich eine Stresssituation erzeugt, uns aber andererseits unter anderem im Gesundheitswesen die Gelegenheit geboten, unsere Lebens- und Arbeitsweise zu ändern. Die Pandemie hat zum Beispiel den Bereich E-Health (bzw. den Zugang zum Gesundheitssystem mithilfe digitaler Tools) verbessert. Darüber hinaus hat sie uns die Fragilität der Welt vor Augen geführt und uns dazu veranlasst, über gesellschaftliche Probleme nachzudenken und neue Formen des Gemeinschaftslebens sowie angemessene städtische Räume zu finden. Doch vor allem hat sie uns erstens an die zentrale Rolle der Prävention erinnert und zweitens daran, dass ein salutogenetischer Lebensstil ein wichtiger Verbündeter bei der Bewältigung der Pandemie sein kann.»