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Bischof: Die Pandemie kann für die Kunst auch eine Gelegenheit der Kreativität sein

Donnerstag, 4. Februar 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana
Philippe Bischof, Leiter der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia (© Anita Affentranger)
Philippe Bischof, Leiter der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia (© Anita Affentranger)

von Valeria Camia

Die Covid-19-Pandemie: Ein Desaster für die Kultur oder eine Chance, um Kreativität freizusetzen, neue Formen des Schauspiels, der Museumsbesuche, der Konzerte und sonstiger Performances zu planen und umzusetzen, indem wir im digitalen Format in die Häuser der Zuschauer gehen, geografische Barrieren überwinden und auch Genre-Unterschiede zu reduzieren? Darüber haben wir mit Philippe Bischof gesprochen, seit November 2017 Leiter der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, der in der Schweiz und im Ausland viele Jahre als Regisseur und Dramatiker an öffentlichen Theatern und freien Bühnen tätig war. Seine berufliche Laufbahn war also stets geprägt vom direkten Kontakt mit dem Publikum und dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen.
Die Künstlerinnen und Künstler bilden den Mittelpunkt des Beitrags von Bischof anlässlich des Webinars «Cultura e Salute (Kultur und Gesundheit). Connected to shorten distances», veranstaltet von der Divisione Cultura della Città di Lugano (Kulturamt der Stadt Lugano) und der Stiftung IBSA im Rahmen des Projekts Cultura e Salute (Kultur und Gesundheit) am vergangenen 3. November, als es noch möglich war, kulturelle Aktivitäten «in Präsenz» (wie man heute sagt) anzubieten, wenn auch mit allerhand Einschränken. Bereits da war die digitale Wende in der Kunstszene jedoch spürbar. Bei dieser Gelegenheit betonte Bischof für die Kunstwelt die Tragweite dieses historischen, in vielerlei Hinsicht schwierigen und sehr schmerzhaften, aber auch «euphorischen» Augenblicks, der das Potential zur Vermittlung neuer Formen der Kreativität, der digitalen Konzeption sowie zur Schaffung nationaler und internationaler Netzwerke hat.

Herr Bischof, wird das Digitale das Ende der Museumsbesuche bedeuten oder Raum für diverse neue Formate, andere Erfahrungen von grossem Interesse und grosser Bedeutung schaffen?

«Wie jedes künstlerische Ambiente und alle kulturellen Einrichtungen – antwortet Bischof – haben auch die Museen durch die Pandemie die Chancen und die Notwendigkeit des digitalen Raums entdeckt. Diesbezüglich ist jedoch auch deutlich geworden, dass es im Hinblick auf eine sinnvolle, unvoreingenommene Nutzung der digitalen Tools noch sehr viel zu tun gibt. Und wir müssen uns dessen bewusst sein, dass der digitale Raum den analogen Raum ergänzen, nicht aber ersetzen kann. Durch die Pandemie stellen wir fest, dass das persönliche Erlebnis bei dem Besuch eines Museums oder jeder anderen Kulturstätte nicht vollkommen durch digitale Angebote kompensiert werden kann, da das konkrete Zusammentreffen mit anderen Menschen und mit der Kunst in ihrer ganzen Vielfalt ein wesentliches Element unseres kulturellen Bedürfnisses ist. Ein Element, das momentan leider fehlt. Die herkömmliche (wenn man so will eben analoge) Dimension wird also weiterhin eine wesentliche Rolle spielen, aber durch die digitalen Formate kann der Zugang zu den Museen und anderen Kunststätten erweitert werden. Vergessen wir nicht, dass ein Grossteil des potentiellen Publikums eine Ausstellung zunächst durch digitale Formate kennenlernt. Aus verschiedenen Gründen können sich nicht alle einen echten Museumsbesuch erlauben oder einen solchen organisieren. Mithilfe der digitalen Tools könnte das Echo auf die Angebote positiv und qualitativ interessant verstärkt werden. 

Covid hat der Kulturbranche ihre strukturellen Schwächen aufgezeigt und die finanzielle Nachhaltigkeit dieses so wichtigen Bereichs wurde ins Rampenlicht gerückt und kritisiert. Denken Sie, dass die Pandemie den Anstoss hin zu verantwortungsbewussteren und nachhaltigeren Ansätzen geben kann? 

«Im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage der Kulturbranche hat die Pandemie vor allem zwei Aspekte hervorgehoben: Einerseits die prekären Lebensbedingungen vieler freischaffender Künstlerinnen und Künstler, andererseits die enorme Abhängigkeit der kulturellen Einrichtungen vom Erfolg und von den Geldmitteln Dritter. Beide Phänomene sind unter anderem auf die Tatsache zurückzuführen, dass die internationale Konkurrenz auch in der Kunst und Kultur in beinahe allen Bereichen stark zugenommen hat. Die renommierten Kunstschulen schmieden in aller Welt ambitionierte Künstler in einem von starker Konkurrenz geprägten Kontext, der sie dazu zwingt, ständig liefern zu müssen. Dieser Trend ist nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus ökologischer Sicht wenig nachhaltig, weil es die Formung eines globalen, höchst mobilen Künstlerprekariats vorantreibt und die Kurzlebigkeit der Werke befeuert, die häufig nur ein- oder zweimal ausgestellt werden und in ihrer potentiellen Wirkung begrenzt sind. Ich denke, dass die Pandemie eine Art experimentelles „In-Vivo“-Labor bedingt hat, das es ermöglicht, diesen konstanten Druck nach Produktion und Mobilität in Frage zu stellen. Gleichzeitig haben die lokale Dimension und das Einbeziehen der Leute vor Ort an Bedeutung gewonnen. Selbstverständlich darf man nicht in die Provinzialität verfallen, denn auch in Zukunft wird der Austausch auf überregionaler und globaler Ebene wichtig sein: Schliesslich nähren sich Kunst und Kultur fast immer vom Dialog mit anderen Wirklichkeiten und dieser Aspekt muss erhalten bleiben». 

So wie die Pandemie keine geografischen und sozialen Grenzen kennt, so kann auch die Kultur physische und generationenbedingte Hürden überwinden. Kann man sagen, dass es der Pandemie durch die digitalen Technologien gelungen ist, die Protagonisten der Kulturwelt einem potentiell breiteren Publikum nahezubringen?

«Eine interessante Frage, die wir noch nicht beantworten können. Allerdings beobachten wir, dass dieser Aspekt eine weitere Chance des oben erwähnten „In-Vivo“-Experiments darstellt. Es ist nicht nur während der Pandemie, sondern auch in der Zeit danach eine grosse Herausforderung, neue Zuschauergruppen zu erreichen und ihnen eine authentische Teilnahme am künstlerischen und kulturellen Leben zu bieten. Die aktuelle Situation liefert uns mögliches experimentelles Terrain, um diese Menschen einzubinden und in ihnen auch in Zukunft das Interesse für Kunst und Kultur zu wecken.

Die Daten zeigen, dass vor allem Frauen in diesen Monaten vom Verlust des Arbeitsplatzes gefährdet sind und die Mütter sich um die Kinder kümmern. Andererseits bietet die Pandemie den Frauen (und Männern) die Möglichkeit, flexibler zu arbeiten. Gibt es dafür auch in der Kunstbranche Beispiele?

«Durch die neuen Technologien kann man von zuhause arbeiten und Distanzen überwinden, ohne jedes Mal auf ein Transportmittel zurückgreifen zu müssen. Für die Frauen und Männer, die arbeiten und sich gleichzeitig um die Kindererziehung kümmern, kann das ein Vorteil sein, da sie durch den Wegfall langer Fahrten mehr Zeit und Energie haben, um das Familien- und Berufsleben unter einen Hut zu bekommen. Allerdings sollten wir vermeiden, dass sich diese Sphären noch weiter vermischen. Es bedarf einer Reihe Massnahmen, um Frauen und Männern in der Kultur Chancengleichheit garantieren zu können. Viele bekannte Probleme, darunter beispielsweise die Tatsache, dass Frauen durchschnittlich 17% weniger verdienen als Männer, lassen sich durch Technologie alleine nicht lösen. Es ist Aufgabe der Politik und der Unternehmen, entsprechende Massnahmen zu ergreifen, um die beruflichen Perspektiven der Mütter langfristig zu verbessern».