DIE MEINUNG

Das Smartphone? Es kannauch ein Verbündeter sein und nicht nur ein „Feind“

Laura Marciano
Dienstag, 27. September 2022 ca. 9 Minuten lesen In lingua italiana

von Laura Marciano
Forscherin an der Harvard T.H. Chan School of Public Health, Boston

Das Smartphone ist zum tagtäglichen Begleiter der Jugendlichen von heute geworden und erweitert ihren Horizont und ihre Kontaktmöglichkeiten unter vielen Gesichtspunkten. Es setzt diese aber auch Risiken aus, derer sie sich nicht immer bewusst sind. Diesen Themen ist der 10. Band der mit Let’s Science verbundenen Bücherreihe gewidmet, dem Projekt für die Verbreitung der Wissenschaft bei Jugendlichen, das die IBSA Foundation for Scientific Research in Zusammenarbeit mit dem Departement für Bildung, Kultur und Sport (DECS) vom 12. bis 17. September in der Villa Saroli (Lugano) organisiert. Dieser von dem Verlag Carocci herausgegebene Band mit dem Titel Lo smartphone: alleato o nemico?(Das Smartphone: Freund oder Feind?), dient dem Ziel, die Untersuchungen, die zu diesem Thema durchgeführt wurden, unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten besser zu verstehen. Es wird über den Gegensatz einer bewussten und einer problematischen Nutzung von Smartphones gesprochen und darüber, warum Jugendliche stärker gefährdet sind, „abhängige“ Verhaltensweisen zu entwickeln.
Wir sagen gleich am Anfang, dass sich die wissenschaftliche Forschung bisher generell mehr auf die negativen als auf die positiven Folgen der Nutzung der neuen Technologien konzentriert hat. Aus mehreren im Jahr 2018 veröffentlichten Studien geht insbesondere hervor, dass bei einer Stichprobe von mehr als einer Million US-amerikanischen Jugendlichen das psychische Wohlbefinden von 1991 bis 2011 stabil war oder sich verbessert hat, während zwischen 2012 (dem Jahr, in dem mehr als 50 % der Jugendlichen ein Smartphone besassen) und 2016 eine bemerkenswerte Verschlechterung festgestellt wurde. Obwohl diese beschriebene Minderung des Wohlbefindens gering war, war sie für einen so kurzen Zeitraum dennoch „ungewöhnlich“. Insbesondere Aktivitäten, bei denen keine Bildschirme verwendet werden mussten (z. B. soziale Interaktionen von Mensch zu Mensch, Hausaufgaben, Sport, Lesen), wurden im Laufe der Zeit mit grösserer Zufriedenheit verbunden, während bildschirmbasierte Aktivitäten (z. B. Nutzung sozialer Medien, Internet, Textnachrichten, Videochats, Fernsehen, Spiele) mit einem geringeren Wohlbefinden in Verbindung gebracht wurden. Dennoch ist die Meinung, dass die neuen Technologien schädlich sind, eine wenig fundierte Verallgemeinerung. Die Autoren fanden in der Tat Anhaltspunkte, welche die sogenannte „digital Goldilocks hypothesis“ (digitale Goldlöckchen-Hypothese) rechtfertigen. Nach dieser ist eine moderate Nutzung
– „gerade richtige“ (just right) – der digitalen Medien nicht grundsätzlich schädlich. Mit anderen Worten, wenn die Nutzung digitaler Medien zu intensiv ist, könnte sich dies negativ auf andere Offline-Aktivitäten auswirken. Wenn sie dagegen gleich null ist, können die Jugendlichen davon abgehalten werden, sich wichtige Informationen anzueignen und mit Gleichaltrigen Kontakt aufzunehmen. Dieses Verhältnis zwischen der Nutzung der Technologie und dem Wohlbefinden kann folglich nicht als linear, sondern muss als umgekehrtes U beschrieben werden.

DER SISYPHOS-ZYKLUS - Es sollte ausserdem daran erinnert werden, dass die Untersuchung der negativen Auswirkungen der Technologien das Ergebnis des sogenannten Sisyphos-Zyklus der Panik vor der Technologie ist. In diesem Zyklus werden die Fachleute dazu ermutigt, sich Zeit zu nehmen und den Einfluss der neuen Technologien auf Kinder und Jugendliche untersuchen, um eine besorgte Bevölkerung zu beruhigen. Diese Bemühungen könnten jedoch wirkungslos bleiben, weil es keine theoretische Grundlage dafür gibt: Die Forscher können sich nämlich nicht auf die Erkenntnisse aus früheren Untersuchungen zu Technologien stützen (denn digitale Technologien gab es natürlich nicht). Daher beginnt die akademische Forschung offenbar bei jeder wichtigen neuen Technologie bei null, wodurch die Politik und die Massnahmen verlangsamt werden, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass diese Technologie vorteilhaft für die Gesellschaft genutzt wird. Die Ängste, die wir heute in Bezug auf die sozialen Medien haben, erinnern an die Ängste, die wir in der Vergangenheit vor der Radiosucht hatten. Da jede neue Technologie völlig unabhängig von jeder früheren Technologie betrachtet wird, müssen die Forscher sich ständig mit den gleichen Fragen befassen, um diese Panik zu beenden. In jedem Jahrzehnt werden neue Technologien in das Leben der Menschen einbezogen, was dazu führt, dass eine allgemeine Besorgnis über ihre Auswirkungen auf die Schwächsten der Gesellschaft entsteht.

Abgesehen davon können wir verstehen, dass es unvermeidlich ist, sich darüber Sorgen zu machen, wie sich Smartphones und soziale Medien auf das Wohlbefinden vor allem von jungen Menschen auswirken können. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass sich der Kreislauf wiederholt, und dass er nicht ewig dauern kann. Folglich sollte jede Lösung für eine gesunde und ausgewogene Nutzung von der Person ausgehen, so dass die Kompetenzen und Kenntnisse, die zur Förderung des Wohlbefindens notwendig sind unabhängig vom nächsten digitalen Gerät oder der nächsten App stets theoretisch fundiert und in den Vordergrund gestellt werden.

DIE NEUE NORMALITÄT - Diese Aspekte sind besonders wichtig, wenn von der problematischen Nutzung neuer Technologien gesprochen wird, vor allem wenn man berücksichtigt, dass der ständige Zugang zu den Technologien der digitalen Medien und deren tägliche Nutzung als neue Normalität angesehen wird. Vor allem nach der Corona-Pandemie ist es nicht einfach festzulegen, was ein problematisches digitales Verhalten ist. Um die beiden Konzepte voneinander zu unterscheiden und festzustellen, wann und wie die Nutzung digitaler Medien zu einem Problem werden kann, sollten wir zunächst die Geschichte und die Theorie hinter dem Konzept der substanzungebundenen Abhängigkeituntersuchen. Dieses Konzept unterscheidet sich von den klassischen Formen der Sucht dadurch, dass ein Verhalten und nicht eine Substanz eine Abhängigkeit verursacht. Insbesondere alles, was intensiv (Dauer), wiederholt (Häufigkeit) und problematisch (in sozialen Beziehungen, in der Schule, am Arbeitsplatz) praktiziert wird, kann unabhängig von der Natur der Tätigkeit grosse Probleme verursachen. Die Menschen können zu intensiv Glücksspiele und Videospiele spielen, das Internet nutzen, sexuelle Praktiken ausüben, einkaufen, Sport treiben, essen oder sogar sich sonnen. Aber nicht alle diese Verhaltensweisen können als psychiatrische Diagnosen bezeichnet werden, für die wissenschaftliche Ergebnisse und klinische Untersuchungen erforderlich sind. Zurzeit sind nur zwei Störungen als solche anerkannt, nämlich die Spielsucht und die Online-Spielsucht. Für das, was als Abhängigkeit vom Internet oder Abhängigkeit von sozialen Medien bezeichnet wird, gibt es dagegen keine richtige Diagnose, deshalb bezeichnen wir diese Konzepte als problematische Nutzung. Auch Angstzustände, Depressionen, Impulsivität und Konzentrationsprobleme sind im Zusammenhang mit der problematischen Nutzung beschrieben worden. Aber was ist in diesem Fall zuerst da: die Henne oder das Ei? Das ist schwer zu sagen, auch weil das, was beobachtet wird, oft ein Teufelskreis ist. Das bedeutet, dass diejenigen, die das Internet und die sozialen Medien zu intensiv und auf problematische Weise nutzen, auch andere Symptome entwickeln, und dass umgekehrt diejenigen, die bereits Symptome haben, mit der Zeit auch ein problematisches Verhalten in der digitalen Welt entwickeln. Das ist vor allem heute, wo es keine Kontrollgruppe (d.h. Jugendliche ohne Smartphones) gibt schwer zu unterscheiden!

DIE SUCHEN MIT APPS - Man kann allerdings verschiedene Arten von Suchvorgängen und unterschiedliche Datenquellen verwenden. Heute kann man mit dem Smartphone über das Smartphone recherchieren, indem man bestimmte Apps installiert, mit denen es möglich ist, Daten automatisch zu erfassen und täglich kurze Fragen zu stellen. Wir können sagen, dass wir fast an dem Punkt angekommen sind, das wissenschaftliche Paradigma in diesem Bereich zu ändern: Dank neuer Methoden der Datensammlung und -analyse sind wir jetzt in der Lage, Ergebnisse zu erhalten und Prognosen für eine einzelne Person zu machen und zu testen, für wie viele Teilnehmer eine Hypothese stimmt und für wie viele nicht.

Dank diesen Untersuchungen wissen wir, dass die Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien, unabhängig von den Merkmalen, gering und unterschiedlich sind. Tatsächlich können die Auswirkungen der Nutzung sozialer Medien abhängig von der Person und der Situation negativ, positiv oder gleich null sein: Jede Person hat ihre eigenen Merkmale und lebt in einem einzigartigen sozialen Kontext. Von diesen variablen Umständen wird ihre Nutzung von Smartphones und sozialen Medien beeinflusst. Bei Jugendlichen sind diese Auswirkungen noch ausgeprägter, da sich das Gehirn noch entwickelt. Vor allem in der Jugend, wo das Kontrollsystem nicht in der Lage ist, das Belohnungssystem zu verwalten. Aus diesem Grund kann man sich das jugendliche Gehirn wie ein Auto mit Turbomotor vorstellen, dessen Bremsen nicht richtig funktionieren. Ausserdem reagiert das Gehirn von Jugendlichen auf soziale Reize anders als das von Kindern und Erwachsenen: Die soziale Welt ist für die Entwicklung von relevanten kognitiven Fähigkeiten und eines Gefühls der Selbstsicherheit gegenüber der Umwelt sowie für die Entwicklung der eigenen Identität, der Unabhängigkeit und von wichtigen Beziehungen unerlässlich. Dieser soziale Hunger kann sehr leicht über die sozialen Medien ausgedrückt werden, die daher sowohl positive (z. B. soziale Beziehungen) als auch negative (z. B. Cyber-Mobbing) Auswirkungen verstärken können.

Um die gesunde und bewusste Nutzung von diesen zu fördern, beziehe ich mich oft auf die Tatsache, dass der Unterschied zwischen exzessivem, aber gesundem Enthusiasmus und Abhängigkeit darin besteht, dass «gesunder Enthusiasmus zum Leben beiträgt, während Abhängigkeit davon wegführt». Um nicht zuzulassen, dass eine neue digitale Technologie (z. B. soziale Medien) das Wohlbefinden auf entscheidende Weise beeinflusst, dürfen wir diese Technologie nicht als Basis und Agent der Veränderung betrachten, über den die Menschen wenig Kontrolle haben. Aber durch das Wissen darüber, was gut oder schlecht oder nützlich oder übertrieben ist, kann jeder von uns selbst bestimmen, wie er das Netz nutzt, und verstehen, wann das Internet zum Vorteil oder zum Nachteil genutzt wird je nach seinen eigenen Bedürfnissen und seiner Entwicklungsphase. Eine gesunde und anpassungsfähige Nutzung des Netzes liegt vor, wenn man für eine angemessene Zeit im Netz ist, und wenn das Internet als nützliches Instrument für einen bestimmten Zweck und nicht als Quelle für die Suche nach der eigenen Identität genutzt wird. Ausserdem ist das Management der eigenen Zeit der wichtigsten Ressource, die wir haben und die uns niemand zurückgeben kann heute noch wichtiger, vor allem wenn man berücksichtigt, wie leicht wir abgelenkt werden können.