kultur und gesundheit

Anne Torreggiani: Senioren als Protagonisten der Online-Kultur (Konzerte und Theater)

Samstag, 20. Februar 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana
Anne Torreggiani, Geschäftsführerin der The Audience Agency
Anne Torreggiani, Geschäftsführerin der The Audience Agency

von Valeria Camia

Auf welche Weise hat COVID-19 die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen durch Personen aus verschiedenen Generationen, mit unterschiedlichen Interessen und diversen Präferenzen verändert und beeinflusst? Aussagekräftige Denkanstösse geben uns die Ergebnisse einer englischen Studie – des COVID-19 Monitors – die am 3. November 2020 anlässlich des Webinars «Cultura e Salute (Kultur und Gesundheit). Connected to shorten distances» präsentiert wurden. Veranstalter waren die Divisione Cultura della Città di Lugano (Abteilung für Kultur der Stadt Lugano) und die Stiftung IBSA im Rahmen des Projekts «Cultura e Salute» (Kultur und Gesundheit). 

Der von UK Research and Innovation (UKRI) finanzierte und vom Arts and Humanities Research Council in Auftrag gegebene «COVID-19 Monitor», koordiniert von Anne Torreggiani, Geschäftsführerin der The Audience Agency und stellvertretende Leiterin des Zentrums für kulturellen Wert der Universität Leeds, ist eine detaillierte Untersuchung der kreativen und kulturellen Onlineaktivitäten (von Ende Oktober bis Anfang November 2020), bei der mehrere Tausend britische Haushalte untersucht wurden. Dabei gab es eine Einteilung in zehn Gruppen, die auch unterschiedliche Haltungen gegenüber der Kultur bedeuten. Das Mapping dieser Gruppen und ihre Interaktion mit dem digitalen Kulturangebot liefert den Organisationen hilfreiche Datensätze für die Planung künftiger Wiedereröffnung und für die Neugestaltung der eigenen Angebote. Insgesamt wurden 6000 Antworten gesammelt

Anne Torreggiani, ein Ergebnis des COVID-19 Monitors scheint paradox: Während nur 60 Prozent der über 60-Jährigen angegeben haben, vor der Pandemie mit digitalen Inhalten konfrontiert gewesen zu sein, wurden in den Lock-down Monaten die kulturellen Online-Angebote vorwiegend von einem älteren Publikum verfolgt. Woher kommt dieser digitale Zulauf?
«Die Daten – antwortet Torreggiani – zeigen, dass die Senioren bis heute einen erheblichen Anteil des Publikums eher traditioneller, über das Web verbreiteter Ereignisse (wie Opernbesuche, klassische Konzerte, Ballett- oder Theateraufführungen) darstellen. Es ist eine Tatsache, dass aus über 60-Jährigen bestehende Haushalte auch vor der Pandemie das Hauptpublikum solcher Angebote waren. Mit anderen Worten, der Lockdown hat den Trend zur „passiven“ Onlinenutzung anspruchsvoller Kulturveranstaltungen verschärft, bei denen ein älteres Publikum sowieso in der Mehrheit war, auch als man die Theater und Konzerthäuser live besuchen konnte. Das erklärt, weshalb die älteren Zuschauer dieser Ereignisse, die jetzt online sind, den jungen Zuschauern zahlenmässig überlegen sind. Dennoch hat sich im Vergleich zu den Senioren nicht nur eine verstärkte „aktive“ digitale Teilnahme junger Leute bestätigt, sondern es kommt auch häufiger vor, dass die Jungen im Unterschied zu den Senioren via Web oder die sozialen Medien an Events teilnehmen, sofern dies vor COVID-19 nicht sowieso schon der Fall war. 46% der an der Umfrage beteiligten Zwanzigjährigen haben angegeben, die eigene digitale Präsenz während des Lockdowns erhöht zu haben, bei den über 65-Jährigen waren es 36%. Ebenso wächst die Teilnahme „junger“ Haushalte (Dreissig- und Vierzigjähriger) an digitalen Events, die in Bezug auf kulturelle Tätigkeiten von „unbeteiligt“ zu „beteiligt“ gewechselt sind (42%). Es handelt sich beispielsweise um Familien, die in oftmals ethnisch gemischten Vorstädten leben, für welche die Kultur in Zeiten vor COVID eher eine gelegentliche Freude, ein Familienausflug als ein fester Bestandteil ihres Lebensstils war».

Die Verbindung zwischen der Leidenschaft für eine Form der Kunst (oder Aufführung) und die Nutzung digitaler Tools, um sie zu verfolgen, ist also stärker als das Verhältnis zwischen Alter und der digitalen Nutzung?
«Genau. Der „COVID-19 Monitor“ verdeutlicht einen zweifachen Trend: Einerseits wird die Präsenz eines älteren und kulturell hochgradig engagierten Publikums mit der Vorliebe für „traditionelle“ Veranstaltungen bestätigt; Andererseits nimmt ein jüngeres Publikum mit breitgefächerten Vorlieben zu, das für neue Formate offen ist und sich für Events interessiert, die eine hohe Beteiligung verzeichnen. Wie bereits erwähnt, registriert man in den Haushalten, die sich aus Senioren zusammensetzen – die wir in unserer Studie Home&Heritage genannt haben und die 10% der englischen Wirtschaftshaushalte ausmachen –, eine grosse Aufmerksamkeit für Streaming- oder aufgezeichnete Programme (die folglich nicht speziell für die sozialen Medien gedacht sind). Was den Inhalt anbelangt, geben die über 60-Jährigen an, sich nur für zwei oder drei Arten kultureller Online-Events, meist zur „passiven“ Nutzung, zu interessieren. Demgegenüber stehen die Haushalte junger Paare oder junger Singles, häufig Studenten, Hochschulabsolventen, Leute die am Anfang oder in der Mitte ihrer Berufslaufbahn stehen, die offener sind für das Experimentelle, die mehr Wert auf ein breitgefächertes, speziell für die neuen Medien gedachtes Angebot legen. Diese Gruppe setzt sich aus Personen mit einer derzeit sehr hohen Online-Präsenz aus (sie stellt ca. 13% des digitalen Publikums dar, also gut das Doppelte im Vergleich zu den gewöhnlichen 6% des Publikums bei Präsenzveranstaltungen)».

Gibt es zwischen den neuen und den älteren Generationen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede bezüglich der Gründe, aus denen Sie Onlineveranstaltungen mitverfolgen? 
«Interessant und in gewisser Weise auch überraschend ist die Tatsache, dass die jungen Leute angegeben haben, den Kulturveranstaltungen nicht nur der Unterhaltung wegen beizuwohnen, sondern auch zur Vermeidung von Einsamkeit. Diese Motivation ist bei den älteren Leuten weniger relevant. Man kann annehmen, dass die Senioren bereits gewöhnt sind, einen längeren Zeitraum allein zu verbringen und nicht die Notwendigkeit verspüren, über die sozialen Medien den Kontakt zu anderen zu suchen. Die Rentnerhaushalte legen im Vergleich zu den jungen Leuten viel mehr Wert auf ein hochwertiges digitales Erlebnis».

Differenzieren, lautet so also abschliessend einer der wichtigsten Botschaften für Kulturämter und Veranstalter?
«Ja, eine der klaren Botschaften des „COVID-19 Monitors“ ist sicherlich, dass die Art und Weise des digitalen Erlebnisses und die Wahl der zu verwendenden Kanäle je nach Art des Publikums variieren sollte, angefangen bei den jüngeren Haushalten, die gerne mit anderen über die sozialen Medien kommunizieren, bis hin zu Haushalten mit älteren Menschen, die sich für soziale Interaktion weniger interessieren. Das ist ein Punkt, über den die Produzenten besonders nachdenken sollten: Schliesslich wurde von den Kulturämtern bisher im grossen Stil in traditionelle Veranstaltungen investiert, die neuen, aufstrebenden Präferenzen, die aus den Daten ersichtlich werden, wurden dabei vergessen. Das ist paradox. Es ist kein einfacher Prozess, ein Produktionsformat zu ändern und das Angebot zu erneuern, aber ich denke, dass es zum Teil nötig sein wird, vor allem wenn die künftigen Phasen des Monitorings bestätigen, dass die Senioren insgesamt und generell wenig dazu neigen, sich mit den neuen digitalen Formaten auseinanderzusetzen, wenig Interesse an der Teilnahme an Onlineveranstaltungen zeigen, sofern sie nicht schon vor der Pandemie machten, und auch eine hohe Schwelle der Zurückhaltung bei der Buchung künftiger Live-Events erwarten lassen».


Warning: Undefined variable $relatedCount in /data/virtual/wwwscienza/public_html/news.php on line 417
Lies auch dieses: Bischof: Die Pandemie kann für die Kunst auch eine Gelegenheit der Kreativität sein