DIE MEINUNG

Warum können nicht auch wir davon träumen, eine Technische Hochschule zu haben?

Franco Cavalli
Mittwoch, 17. November 2021 ca. 4 Minuten lesen In lingua italiana

von Franco Cavalli
Präsident der Stiftung Forschungsinstitut für Onkologie (IOR)

Im September 1995 kamen Giorgio Nodesa und ich während einer Radiodebatte auf die Idee, ein biomedizinisches Forschungsinstitut im Tessin zu gründen. Schon bald gesellte sich der zukünftige erste Präsident der USI Marco Baggiolini zu uns und kurz darauf liess uns der Bürgermeister von Bellinzona wissen, dass die Stadt bereit sei, uns dabei zu helfen. Dies führte im Jahr 2000 zur Einweihung des IRB. Ebenfalls im Herbst 1995 gab ich während der Wahlkampagne zur Bundestagswahl, für die ich mich zum ersten Mal kandidiert hatte, auch den Anstoss zu einer Fakultät für biomedizinische Wissenschaften im Rahmen der USI, die gerade Gestalt annahm. Dieser Vorschlag von mir rief einen Chor von Kritiken hervor, deren weniger böse mir vorwarf, den Sinn für Realität verloren zu haben und utopische und unsinnige Ideen zu unterstützen. Tatsächlich war vielen Tessinern noch nicht bewusst, dass sich die Kantonsspitäler nach der Gründung des Ente Ospedaliero Cantonale (EOC) im Jahr 1982 völlig verändert hatten, während das Gesundheitssystem vor diesem Datum in der Tat zumeist aus dem 19. Jahrhundert stammte, dominiert von zu vielen ineffizienten Spitälern, die auf irrationale Weise verwaltet und von den verschiedenen politischen Fraktionen kontrolliert wurden.

Zwanzig Jahre später ist die Fakultät für biomedizinische Wissenschaften Realität geworden und seit etwas mehr als einem Jahr haben wir bereits die ersten Studenten der Medical School, die sie nach einstimmigen Urteilen, die ich kürzlich nördlich der Alpen sammeln konnte, äusserst posititiv beurteilen. Es liegt auf der Hand, dass wir ohne die Gründung des IRB und einige Jahr später des IOR (Onkologisches Forschungsinstitut) niemals in so kurzer Zeit an diesen Punkt gelangt wären: Beide sind dank ihrer unzähligen Veröffentlichungen in Zeitschriften mit hohem Impact Factor und durch die grossen Erfolge in einer ganzen Reihe von Forschungsprojekten mittlerweile auch auf internationaler Ebene etabliert. Oft werde ich gefragt, wie dies in einem Kanton möglich war, der so gut wie keine Erfahrungen in der biologischen wissenschaftlichen Forschung hatte. Ich glaube, dass mehrere Faktoren dazu beigetragen haben, darunter vor allem die von Anfang an getroffene Entscheidung, jede Art von Klientelismus oder Nepotismus zu vermeiden und ausschliesslich auf Qualität zu setzen. Heute spricht man oft aufs Geratewohl von der Exzellenz: Ich glaube jedoch, dass wir sie, ohne viel Reden zu halten, von Anfang an praktiziert haben. Andererseits hat uns in gewissem Sinn das Fehlen einer Tradition von Universitätsstrukturen, die oft von ihrer Natur aus konservativ sind, von Anfang an ermöglicht, sehr innovativ zu sein und das zu erreichen, was wir wollten, ohne jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen. Zweifellos hat uns auch die finanzielle Unterstützung von öffentlicher Seite, vor allem der Eidgenossenschaft und verschiedener Philantropen, sehr geholfen. Zudem möchte ich betonen, dass es in einem, auf völlig irrationale Weise, mittlerweile antieuropäisch gewordenen Kanton, ohne die Gewährung europäischer Zuschüsse, vor allem aber ohne die Freizügigkeit der Forscher, unmöglich gewesen wäre, diese Ziele so schnell zu erreichen. Gerade weil das Tessin anfangs nicht über ausreichende Humanressourcen im Bereich der Spitzenforschung verfügte und wir damals nördlich der Alpen oft mit einer gewisser Skepsis betrachtet wurden, konnten wir allein durch die vielen hochkarätigen Forscher, vor allem aus Norditalien, grosse Fortschritte erzielen. 

Nun erwarten uns neue Herausforderungen und deshalb haben IRB und IOR beschlossen, die Associazione BIOS+ (Bellinzona Institute of Sciences, Biomedizinisches Forschungszentrum der Italienischen Schweiz) zu gründen, um eine ganze Reihe grundlegender Synergien zu nutzen, um die Qualität der in Bellinzona durchgeführten wissenschaftlichen Forschung weiter zu verbessern. Und da ich davon überzeugt bin, dass es einiger utopischer Visionen bedarf, um grosse Ziele zu erreichen, glaube ich, dass das Ziel, das wir heute anstreben müssen, ausgehend von BIOS+, das ist, ein wissenschaftliches Forschungszentrum von nationaler Bedeutung zu schaffen, das möglicherweise auch andere Bereiche (Chemie? Physik?) einbeziehen kann. Dies könnte uns in Zukunft zudem ermöglichen, nicht nur den Master, sondern auch den Bachelor in der Fakultät für biomedizinische Wissenschaften zu haben. Und wenn die anderen beiden Schweizer Regionen (deutsche und französische Schweiz) eine eigene eidgenössische Technische Hochschule haben, warum kann die dritte Schweizer Region nicht davon träumen, in Zukunft etwas Ähnliches zu haben? Der erste, der sich darüber gefreut hätte, wäre Stefano Franscini, der erste Tessiner Bundesrat und Gründer der ersten Technischen Hochschule, die in Zürich.