Kommentar

Kunst und Wissenschaft: Zwei verschiedene Wege, sich dem «Unbeschreiblichen» zu nähern

Paolo Mazzarello
Mittwoch, 13. Oktober 2021 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

von Paolo Mazzarello
Professor für Medizingeschichte an der Universität Pavia

Am Anfang steht das Geheimnis des Daseins im Verhältnis zum Nichts. Wir leben in einer seltsamen Welt, gekennzeichnet durch unzählige Besonderheiten und unlösbare Rätsel. Daher ist jedes Leben ein Abenteuer, ein vom lateinischen «adventura» abgeleitetes Wort, das übersetzt «etwas, das geschehen wird» bedeutet und sich somit auf etwas uns Unbekanntes bezieht. Die Neugier stellt also für diejenigen, die sich nicht mit dem banalen gesunden Menschenverstand bzw. mit einer scheinbar klar umrissenen und bereits streng vorherbestimmten Welt zufriedengeben, die wichtigste Antriebsfeder dar. Kunst und Wissenschaft entspringen genau diesem ursprünglichen Antrieb, also dem Wunsch, die Welt zu erforschen, um sie besser kennenzulernen. Sie werden von zwei Impulsen angetrieben, die sie vereinen und zur Entdeckung von Neuem drängen, und zwar von der Kreativität und den Emotionen, die jedoch unterschiedliche Wege gehen.

Erstere – der zentrale, unverzichtbare Kern der Arbeit eines Künstlers und eines Wissenschaftlers – besteht in der Fähigkeit, das Offensichtliche zu hinterfragen und sich Neues vorzustellen, das jedoch nicht aus dem Nichts kommt, da es so etwas wie eine spontane Ideenfindung nicht gibt. Mit den Worten des grossen französischen Mathematikers Henri Poincaré: «Kreativität bedeutet, bestehende Elemente auf nützliche Weise neu zu verbinden» (d. h. um Erklärungen oder Lösungen zu finden).
Demnach gibt es keinen Erfindergeist ohne grundlegende Kompetenzen und Kenntnisse, d. h. im Wesentlichen ohne Regeln, die «gebrochen» werden können. Neues entsteht also durch Überwindung des bisherigen Standes der Dinge bzw. durch kreative Kontraste. Das Neue ist jedoch in der Kunst und in der Wissenschaft grundsätzlich verschieden, wie wir am Donnerstag, den 14. Oktober, im Kunst- und Kulturzentrum LAC Lugano im Rahmen der Tagungen zum Thema «Scienza a regola d’Arte» (dt. «Die Wissenschaft nach den Regeln der Kunst») erläutern werden. Dem Erfindungsprozess beider Bereiche liegt derselbe Gedankengang zugrunde, wobei es jedoch wesentliche Unterschiede gibt. Die künstlerische Kreativität kennt keine Grenzen: Sie überwindet Schranken von Zeit und Raum, ersinnt neue Welten, ermöglicht Gedankenreisen und spielt mit Mehrdeutigkeiten. Man denke zum Beispiel an Eschers Werke, Becketts absurdes Theater, Science-Fiction-Geschichten oder an Zwölftonmusik. Die wissenschaftliche Kreativität ist nicht ganz so frei: Sie muss bestimmte theoretische Grenzen respektieren, und zwar die Verfahren der wissenschaftlichen Methode sowie einige grundlegende erkenntnistheoretische Elemente, wie z. B. die Präsenz unveränderlicher und gleichbleibender Phänomene in der Wirklichkeit jenseits der zufälligen Variabilität der Natur. Die Welt muss beständig sein und Grundsätzen der Erhaltung und der Stetigkeit folgen (z. B. in Bezug auf Masse-Energie oder die Lichtgeschwindigkeit), denn wäre dies nicht der Fall, könnten wir sie nicht objektiv beschreiben. Darüber hinaus gibt es in der Wissenschaft praktische Grenzen, die von der Gesellschaft auferlegt, wenngleich leider nicht immer respektiert werden: Die Rede ist von ethischen Vorschriften bzw. dem Gerechtigkeitsprinzip und den daraus resultierenden gesetzlichen Beschränkungen menschlichen Handelns gegenüber Mitmenschen, Tieren und Natur. Angesichts eines Zeitalters, das durch die Möglichkeit gekennzeichnet ist, die biologischen Grundlagen des Lebens zu erforschen und zu verändern, physiologische Grundfunktionen (Atmung und Blutkreislauf) im vegetativen Zustand aufrechtzuerhalten sowie die Umwelt zu verändern und dadurch die Zukunft unseres Planeten zu beeinflussen, kommt ethischen Aspekten eine wachsende Bedeutung zu. 

Ich bin der Meinung, dass es sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft zwei grundlegende Extremmodelle des kreativen Prozesses gibt: auf der einen Seite Kreativität infolge der Fokussierung auf eine Fragestellung bzw. Kreativität durch Konzentration, und auf der anderen Kreativität durch Ablenkung, wie z. B. durch den sogenannten «kreativen Müssiggang». Bei dieser zweiten Art von Kreativität lässt man den Gedanken freien Lauf, bis man eine plötzliche Erleuchtung hat.

Kunst und Wissenschaft haben noch einen weiteren Aspekt gemeinsam, der jedoch in den beiden Bereichen unterschiedlich zum Ausdruck kommt: Emotionen. Der Wissensdrang bildet die Basis der wissenschaftlichen Tätigkeit und bezeichnet jenen starken Antrieb, den der kreative Forscher verspürt, welcher bereits mit Genugtuung mit dem Gedanken spielt, womöglich als Erster zumindest ein Körnchen Wahrheit über die Geheimnisse der Welt herauszufinden. Die Emotionen begleiten ihn bei seiner Forschungsarbeit und treiben ihn an, weiterzumachen und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, sind jedoch nicht Teil des Forschungsprozesses, der auf der wissenschaftlichen Methode basieren muss und fachspezifische Kenntnisse voraussetzt. Aus diesem Grund ist die Wissenschaft einerseits so universell, da sie mühelos geografische Grenzen und kulturelle Barrieren überwindet, aber andererseits – paradoxerweise – so exklusiv, da sie sich einer Fachsprache bedient, die nur wenige beherrschen. Eine Art von elitärem Kosmopolitismus ist das Hauptmerkmal der Wissenschaft.

Die Kunst hingegen ist ein viel unmittelbarer Ausdruck von Kreativität, der meist durch die instinktive Sprache der Emotionen, die allen Menschen gemein ist, erfolgt. Jede Kultur drückt sich jedoch mit ihrer eigenen Sprache aus, die nur von jenen vollständig verstanden wird, die sie sich im täglichen Leben angeeignet haben, und denjenigen in Fleisch und Blut übergeht, die Teil der jeweiligen Gesellschaft sind. Aus diesem Grund sind die verschiedenen Ausdrucksformen – Malerei, Musik, Kino, Literatur und so weiter – in einem bestimmten geistigen Klima verwurzelt und ausserhalb dieses Klimas nicht leicht zugänglich. Deshalb sind Übersetzungen oder Adaptionen erforderlich, um die jeweiligen Ausdrucksformen an den neuen Kontext anzupassen. 

Ebenso wie die Wissenschaft tendiert auch die Kunst umso mehr zur Globalität, je mehr sie in der Lage ist, Emotionen – die allen Menschen gemein sind – zu vermitteln und mit ihnen in Resonanz zu treten, um sie für jeden von uns auszudrücken und somit die Hürden der jeweiligen kulturellen Sprache zu überwinden. Je wirkungsvoller die Kunst Emotionen darstellt, desto universeller wird sie. Man denke an die Poesie von Hafez, das Feingefühl der japanischen Malerei, den mehrdeutigen, aber suggestiven Blick der Mona Lisa oder an Mozarts Universalität. 

Kunst und Wissenschaft teilen den Wunsch, sich, zumindest was unsere menschliche Sensibilität betrifft, dem Unbeschreiblichen zu nähern, genauer gesagt jenen Bereichen, in denen die Wirklichkeit die meisten Rätsel birgt und Phänomene zu undurchschaubar sind, um von unserem kognitiven Apparat erfasst werden zu können. Man denke an die psychologische Mehrdeutigkeit von Porträts zahlreicher Protagonisten literarischer Werke oder von Gemälden, die man zum Beispiel beim Betrachten von Edvard Munchs Der Schrei spüren kann. Nehmen wir die kuriosen Paradoxe der Quantenphysik, welche die mikroskopische Welt im Sinne einer Harmonie der Gegensätze interpretiert und Wellen und Teilchen nebeneinander existieren lässt, oder nehmen wir die mit dem Bewusstsein verbundenen Paradoxe. Die Kunst kann sich vormachen, dass sie das Unbeschreibliche erreicht, und versuchen, es zu überwinden, oder glauben, dazu imstande zu sein. Genau darin liegt ihre Grösse und «mäeutische» Kraft, ihre Fähigkeit, Emotionen auszudrücken und die jedem Menschen innewohnende emotionale Intelligenz zu interpretieren. Der fortgeschrittensten Wissenschaft hingegen gelingt es gerade einmal, diese Grenze zu berühren, sie bleibt jedoch stets jenseits der philosophischen Grenzen der Wirklichkeit.

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich Kunst und Wissenschaft sozusagen innerhalb eines magischen Kreises bewegen: Beide entspringen der Kreativität und den Emotionen und wecken schliesslich ihrerseits neue Kreativität und Emotionen.