ZUKUNFTSSZENARIEN

Neuronale Netze (aber auch Ethik) zur Gestaltung von Medikamenten mit künstlicher Intelligenz

Mittwoch, 17. März 2021 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana

Gespräch mit Andrea Emilio Rizzoli, dem neuen Leiter des IDSIA (USI-SUPSI). Seit wenigen Wochen ist das Institut am von der EU finanzierten Projekt «Advanced machine learning for Innovative Drug Discovery» beteiligt
von Agnese Codignola

Seit Dezember 2020 hat das IDSIA (Dalle-Molle-Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz), eine Zweigstelle der Fakultät für Informatik der USI und der Abteilung für innovative Technologien der SUPSI, einen neuen Leiter, Andrea Rizzoli, der in die Fussstapfen von Luca Gambardella tritt, der das renommierte Institut 25 Jahre lang leitete. Rizzoli, ein gebürtiger Italo-Schweizer mit Studium an der Technischen Hochschule Mailand und einem Studienaufenthalt in Australien, arbeitete bereits seit langem am IDSIA. Nun ist es seine Aufgabe, die grossen Herausforderungen der künstlichen Intelligenz (kurz KI) zu meistern, die er folgendermassen zusammenfasst: «Der Grossteil der jüngsten Erfolge der KI basiert auf Anwendungen der neuronalen Netze, also Netze, die versuchen, den Aufbau unseres Gehirns nachzuahmen, und in denen künstliche Neuronen miteinander verknüpft und in Schichten organisiert werden. Die neuronalen Netze werden mit grossen ein- und ausgehenden Datenmengen gefüttert, stärken auf diese Weise die gegenseitigen Verknüpfungen und damit die Fähigkeit zu bestimmen, ob eine neue Information in ein erlerntes Schema passt oder nicht.
Ein solches System, so Rizzoli, funktioniert gut, wenn es beispielsweise darum geht, zu verstehen, ob ein biologisches Bild innerhalb eines Normbereichs (Range) liegt oder nicht, aber es hat auch offensichtliche Grenzen, denn es kann keine weitergehenden Informationen oder Erklärungen dazu liefern, wie und weshalb ein gewisses Ergebnis erzielt wurde. Aus diesem Grund versucht man vermehrt mit bayesschen Netzen zu arbeiten in Anlehnung an das von Pfarrer Thomas Bayes im 18. Jahrhundert entdeckte Theorem. «Mit diesem Ansatz – erklärt Rizzoli – verwendet der Rechner Informationen über die Ursachen eines bestimmten Phänomens und berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine gewisse Information zu dem passt, was er kennt. Dadurch nähert er sich der typischen Denkweise der Menschen viel weiter an». 

Eine auf diese Weise strukturierte KI, also basierend auf dem Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung und nicht auf den einfachen wechselseitigen Zusammenhängen, ist in der Umsetzung viel komplexer, so Rizzoli weiter, aber auch viel realitätstauglicher. Derart konzipierte Programme werden bereits vielfach angewendet, beispielsweise wenn man die Sprache einer Person zur Verbesserung des Verkaufsservices interpretieren möchte, oder beim Militär, in der Medizin oder sogar in der Kultur.
Aber auch wenn es der künstlichen Intelligenz heute nicht gelingt, die wahre Bedeutung dessen, was sie verarbeitet, zu verstehen, so verblüfft sie uns doch immer wieder. So hat beispielsweise im September 2020 ein Artikel für Aufsehen gesorgt, der von dem Algorithmus GPT 3 geschrieben und in der englischen Tageszeitung The Guardian veröffentlicht wurde. Er erzählte von sich selbst: Eine Provokation, die allerdings dem breiten Publikum vor Augen führte, wo die KI steht. 

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Ein weiteres Ereignis, das einerseits für Bewunderung, andererseits für Beunruhigung gesorgt hat, bezieht sich auf das Unternehmen DeepMind, an dessen Gründung Shane Legg, ein ehemaliger Schüler des IDSIA beteiligt war und das 2014 für 500 Millionen Dollar an Google verkauft wurde. Es hat KI geschaffen, die Menschen in so komplexen Spielen wie Go schlagen konnte oder erst kürzlich zur partiellen Lösung des Problems der Proteinstruktur, des sogenannten Foldings, beigetragen hat.

Andererseits wurden dadurch auch die ethischen Fragen in Verbindung mit der Entwicklung KI in Bezug auf Datenschutz und andere Aspekte in den Fokus gerückt. Erst kürzlich wurde den Teilnehmern an einer der renommiertesten Konferenzen der Branche, dem online ausgetragenen Neural Information Processing Systems (NeurIPS), erstmalig auferlegt, auch die ethischen Aspekte ihrer Forschung vorzustellen: Ein Zeichen der Zeit, dem das Magazin Nature einen langen Artikel gewidmet hat. Auch am IDSIA befasst man sich mit solchen Themen, allen voran Alessandro Facchini, Logiker und Mathematiker, um diese rein technische Forschung auch aus einem anderen, wesentlichen Blickwinkel zu betrachten.

Der ganze Sektor befindet sich in einer schnellen Wachstums- und Entwicklungsphase, und um weiterhin auf weltweiter Ebene zu den Spitzenzentren zu zählen, muss sich das IDSIA bei seinen Studien in Zukunft auch auf eine gewisse Rückkehr zur Vergangenheit, auf die Logik, besinnen. Rizzoli erläutert: «In den 80er und 90er Jahren, also am Anfang dieser Forschung, schenkte man der Logik eine besondere Beachtung. Diese hat dann vor allem durch die wechselseitigen Zusammenhänge an zentraler Bedeutung verloren. Aber in den Systemen, die den Anspruch auf Annäherung an die Denkweise haben und die mit Schlussfolgerungen arbeiten, ist die Logik ganz entscheidend».

Die verschiedenen Arbeitsgruppen des IDSIA, das rund achtzig Forscher zählt, befassen sich mit ganz unterschiedlichen Forschungen. Und demnächst werden weitere von der Università della Svizzera italiana (USI) hinzukommen: Eine wichtige Stärkung, um Schritt zu halten mit den beiden grossen Akteuren der Branche: USA und China. «Das IDSIA – so Rizzoli abschliessend – finanziert sich heute nicht mehr aus den anfänglichen Geldmitteln der Stiftung Dalle Molle, sondern wird durch die universitären Einrichtungen vom Kanton unterstützt und erhält beachtliche Geldmittel aus Forschungsprojekten des Schweizer Nationalfonds, von Innosuisse, der Europäischen Kommission und aus Partnerschaften mit Unternehmen. Im Vergleich zum finanziellen und personellen Aufwand der internationalen Konkurrenten handelt es sich häufig jedoch um geringe Summen. Wir aber setzen auf den Faktor Mensch, denn wie die Geschichte von Shane Legg und vieler weiterer, hochkarätiger Forscher gezeigt hat, die ihre Karriere am IDSIA begonnen haben, sind wir der Meinung, dass bei der Arbeit mit KI die Menschen am wichtigsten sind».

Die jüngste, grosse Auszeichnung kam vor wenigen Wochen von der EU (Horizon 2020), die das IDSIA in das Projekt Advanced machine learning for Innovative Drug Discovery (AIDD) aufgenommen hat, um die Systeme KI mit der Chemie und Pharmazie zu verknüpfen. «Ein bedeutendes und innovatives Projekt – so Michael Wand, Senior Researcher und Sprecher des AIDD für IDSIA. – Es wird geforscht, aber es gibt auch eine Komponente Unterricht, um die Jüngeren in einen Sektor mit grossem Potential und starker Wachstumsperspektive einzuführen».