kultur und gesundheit

Musik als Heilmittel, 6. Lektion Alfredo Raglio: So helfen wir Menschen mit Demenz

Sonntag, 25. Dezember 2022 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
Alfredo Raglio, Musiktherapeut und Forscher an den Istituti Clinici Scientifici Maugeri in Pavia
Alfredo Raglio, Musiktherapeut und Forscher an den Istituti Clinici Scientifici Maugeri in Pavia

von Valeria Camia

Verlust des (Kurzzeit-)Gedächtnisses; Sprachstörungen und beeinträchtigte Kommunikationsfähigkeiten; verminderte Aufmerksamkeit; verwirrte Gedanken und Argumentationen: Das sind einige der häufigsten Alarmzeichen, die eine Pathologie wie Demenz charakterisieren, eine degenerative organische Krankheit, die die kognitiven Funktionen betrifft und die normalen Aktivitäten des täglichen Lebens beeinträchtigt. Es wird geschätzt, dass mindestens 10 % der Bevölkerung über 65 Jahren von Demenz betroffen ist, die Zahl wird jedoch weiter steigen (in den nächsten 30 Jahren wird ein Anstieg der älteren Bevölkerung um über 200 % in den Industrieländern erwartet), so dass es nicht als unangemessen erscheint, von Demenz als einem echten Gesundheitsnotfall zu sprechen. Denn wenn einerseits die Lebenserwartung der an dieser Krankheit leidenden Menschen relativ lang ist (sogar mehr als 10 Jahre), sind andererseits die uns zur Verfügung stehenden pharmakologischen Behandlungen nicht sehr wirkungsvoll. 

Auch aus diesem Grund befasst sich die wissenschaftliche Forschung bereits seit einigen Jahren mit einem anderen und komplementären Therapieansatz. Es handelt sich um Musiktherapie, bzw. den Einsatz von Musik und ihrer Elemente (wie Klang, Rhythmus und Harmonie) durch einen qualifizierten Musiktherapeuten, der einzeln oder in einer Gruppe Ziele, wie zum Beispiel Kommunikation, Beziehungen und Mobilisierung des Patienten erleichtert und fördert, um körperliche, emotive, mentale, soziale und kognitive Bedürfnisse zu erfüllen. Die im Rahmen verschiedener Studien erzielten Ergebnisse erschienen zufriedenstellend, insbesondere was die Verbesserung der Lebensqualität und der Verhaltensstörungen der Menschen mit Demenz betrifft.
Über diese Themen wird man am Montag, den 28. November um 18 Uhr im Mehrzwecksaal des Campus Ost in Viganello sprechen, anlässlich der sechsten Lektion des Kurses Musik als Heilmittel, der von der Fakultät für biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano, der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und dem Conservatorio della Svizzera italiana organisiert wird. Einer der Redner wird Alfredo Raglio sein, Musiktherapeut und Forscher an den Istituti Clinici Scientifici Maugeri in Pavia, der sich seit langer Zeit mit Musiktherapie für Demenz und für die neurologische Rehabilitation beschäftigt.

Doktor Raglio, „Demenz“ ist ein Wort, das uns Angst macht, eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt. Nun scheint es jedoch, dass Musik zumindest dazu beitragen kann, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern und die restlichen Ressourcen zu stärken. Stimmt das?

«Mehrere Studien antwortet Raglio haben gezeigt, dass der Einsatz von Klang und Musik bei diesen Menschen eine wichtige Bedeutung hat, da er eine archaische, ausdrucksstarke, aber nonverbale Kommunikation reaktiviert. In diesem Sinne hilft der klangmusikalische Kanal Demenzkranken, einen Weg zu finden, Emotionen auszudrücken und zu kommunizieren, wobei zum Teil die höheren kognitiven Fähigkeiten umgangen werden, die durch die Krankheit am meisten beeinträchtigt sind. Auf diese Weise verbessert die Musiktherapie die Lebensqualität der Menschen mit Demenz, die eine sehr lange Krankheitsaussicht haben. Aber nicht nur das. Die Musiktherapie ist (durch aktive Verfahren und Musikhören) nützlich, um Verhaltensstörungen, wie Unruhe, Reizbarkeit, Angst, aber auch depressive Symptome zu reduzieren und zu modulieren/regulieren. All dies unterstützt im weitesten Sinn traditionelle Behandlungen und die Betreuung von Menschen mit Demenz in institutionellen und familiären Kontexten».

Wie wird die Musiktherapie konkret bei den Kranken eingesetzt?

«Das Musikhören kann durch musiktherapeutische Techniken angeboten werden, die eine gewisse kognitive Integrität voraussetzen (diese Ansätze sind demnach nur in den Anfangsstadien der Krankheit möglich), aber auch als ein Angebot, das auf Musikgenuss basiert (individuelle Musikwiedergabelisten) und vor der psychokognitiven Integrität und der Interaktion mit dem Musiktherapeuten unabhängig ist. In diesem Fall agiert die Musik und somit eignet sich der Eingriff auch in fortgeschrittenen Stadien der Krankheit. Das Musikhören zielt in der Regel darauf ab, Verhaltensstörungen zu reduzieren, das Wohlbefinden zu steigern und die Lebensqualität zu verbessern. Auch der Einsatz bestimmter Algorithmen (ein in einer anderen Lektion des Kurses „Musik als Heilmittel“ behandeltes Thema), die unabhängig von der musikalischen Biographie des Demenzkranken sind (häufig „vergessen“), könnte zu Deaktivierungszwecken angeboten werden, zum Beispiel, um einen Zustand der Unruhe zu mindern. Dies ist derzeit eine Hypothese, die überprüft werden muss, da Studien zur Auswirkung der Musik, die von Algorithmen erstellt wurde, bisher in anderen klinischen Kontexten durchgeführt wurden».

Es scheint fast so, als würde Musik in Situationen, in denen das Gehirn und seine Fähigkeiten beeinträchtigt sind, zum Herzen des Patienten sprechen... 

«Ich würde sagen, dass die Musiktherapie sicherlich die unversehrtesten Teile des Demenzkranken stimuliert und auf die emotional-affektive Komponente einwirkt. Das klangmusikalische Medium ermöglicht, mit dem anderen in empathischen Kontakt zu kommen und Anknüpfungspunkte mit dem Patienten zu finden. Durch Musiktherapie können Kommunikationskanäle geöffnet werden, indem ein Beziehungskreislauf wiederhergestellt wird, in dem sich der Mensch wiedererkennt». 

Ist es, abgesehen von der Empathie, möglich, zu bestimmen, „wie viel Musik erforderlich ist“, um bei Demenz zufriedenstellende therapeutische Ergebnisse zu erzielen?

«Das Thema ist noch zu vertiefen, sowohl im Hinblick auf die Dauer der Behandlung (wie viele Sitzungen) als auch auf die Exposition gegenüber dem Reiz (wie oft). Auf der Grundlage unserer Studien können wir jedoch sagen, dass ein Zeitraum von einigen Monaten (von vier bis sechs) mit einer zwei oder dreimal wöchentlichen Exposition interessante und signifikante Ergebnisse bei der Verringerung der mit Demenz verbundenen Verhaltensstörung liefern kann. Zu vertiefen ist, wie lange die therapeutische Wirkung anhält: Wir haben festgestellt, dass ein kontinuierlicher Zyklus effektiver ist als wiederholte Zyklen mit Unterbrechungen. Es ist wichtig, dass die Forschung fortgesetzt wird, um unser Wissen zu erweitern und evidenzbasierte Anwendungsprotokolle zu definieren».

Eine weitere Anwendung der Musiktherapie, mit der Sie sich beschäftigen, betrifft den Bereich der Neurorehabilitation. Können Sie uns davon erzählen?

«In diesem Bereich gibt es zahlreiche Erfahrungen, die auf die Aspekte der neuromotorischen und kognitiven Rehabilitation abzielen. Es hat sich gezeigt, dass Musik einen sehr wichtigen Einfluss auf unsere Gehirnbereiche hat, insbesondere auf die, die für Bewegung verantwortlich sind und eng mit der rhythmischen Komponente verbunden sind. So entstand die „Neurologic Musik Therapy“, die musikalische Übungen zur Rehabilitation der Bewegung der oberen und unteren Gliedmassen bei so schweren Erkrankungen wie Schlaganfall, Parkinson und Multipler Sklerose einsetzt. In unserem Forschungslabor arbeiten wir mit fortschrittlichen Techniken, die „Sonifikation“ (sonification, auf Englisch) genannt werden, beispielsweise für die Rehabilitation der oberen Gliedmassen und der Hände, insbesondere nach einem Schlaganfall. Es geht darum, dem Patienten eine Reihe von entsprechend ausgewählten klangmusikalischen Reizen anzubieten, die er selbst mithilfe eines Sensors aktiviert. Diese Reize sind die klangliche Darstellung von Bewegungen, insbesondere aus zeitlicher und räumlicher Sicht. Während der Rehabilitation führt der Patient Bewegungen aus, die von den Sensoren gelesen und der Erzeugung von Klängen zugeordnet werden, die in Bezug auf die Qualität der Bewegung Kohärenz erlangen (da sie in einer bestimmten vorgeordneten Reihenfolge angeordnet sind). Durch den erzeugten Klang hat der Patient eine Rückmeldung über die Qualität seiner Bewegung. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Sonifikationssitzungen als wirksame standardisierte Massnahme für die oberen Gliedmassen bei der subakuten Schlaganfallrehabilitation angesehen werden können».