kultur und gesundheit

Musik als Heilmittel, 5. Lektion Liila Taruffi: Wir müssen lernen, die Gedanken besser „schweifen“ zu lassen

Sonntag, 27. November 2022 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
Liila Taruffi, Forscherin an der Universität Durham (Grossbritannien)
Liila Taruffi, Forscherin an der Universität Durham (Grossbritannien)

von Valeria Camia

„Tagträumen“: Wer von uns hat nicht schon mindestens einmal im Leben die Erfahrung gemacht, mitten in einem Gespräch in einen Tagtraum abzugleiten, um dann festzustellen, dass man den Faden verloren hat, weil man mit den Gedanken woanders war? Man könnte zahlreiche Beispiele nennen: eine mehrere Kilometer lange Autofahrt, die wie im Flug vergangen ist; eine Lehrerin, die einen Schüler ermahnt, sich nicht ablenken zu lassen; ein Lied, das uns während eines langweiligen Zoom-Meetings plötzlich in den Sinn kommt und unsere Gedanken auf Wanderschaft schickt.
Die Rede ist vom sogenannten „Mind-Wandering“ bzw. von gedanklichem Abschweifen: Wir lenken uns von dem, was wir gerade tun, ab, überwinden die gegenwärtige Realität, phantasieren, stellen uns zukünftige Ereignisse vor oder durchleben vergangene Momente noch einmal. Dies geschieht viel häufiger, als man denken könnte, da wir den halben Tag im sogenannten „Zoning-out“-Modus, d. h. mit bewussten, jedoch von äusseren Reizen unabhängigen Gedanken,verbringen. Je älter wir werden, desto weniger frei fliessen jedoch unsere Gedanken.

Dieses in der wissenschaftlichen Literatur als „Perceptual Decoupling“ (zu Deutsch: Loslösen vom konkret Wahrnehmbaren) bezeichnete Phänomen ist weder ein besonderes noch pathologisches, sondern ein gewöhnliches, alltägliches Phänomen, das in unserem Gehirn auftritt und seit etwa zwanzig Jahren bekannt ist und von Neuropsychologen erforscht wird.
Noch weitgehend unerforscht ist hingegen das therapeutische Potenzial des Mind-Wanderings: Wissenschaftliche Untersuchungen und Experimente wie die von
Liila Taruffi, einer Forscherin, die an der Universität Durham (Grossbritannien) im Bereich der Musikpsychologie tätig ist, führen in der Tat zu einer Neubewertung des gedanklichen Abschweifens, das sich durch den Einsatz von Musik positiv auf unser Wohlbefinden auswirken kann. «Es ist wichtig, ein neues Licht auf jene geistigen Erfahrungen wie das Mind-Wandering zu werfen, die uns vom hic et nunc (Hier und Jetzt) und den ständigen Anforderungen der Gegenwart und Wahrnehmungswelt ablenken», erklärt Taruffi, die am 21. November um 18 Uhr im Mehrzwecksaal des Campus Est in Viganello als Referentin zur fünften Lektion des Kurses Musik als Heilmittel eingeladen ist, der von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano, der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und dem Conservatorio della Svizzera italiana organisiert wird. «Das Gedankenwandern ermöglicht es uns, Ziele festzulegen, Zukunftsszenarien zu entwerfen, uns etwas vorzustellen und tagzuträumen. Genau aus diesem Grund ist es wichtig, zu lernen, die Gedanken „auf die richtige Weise“ bzw. gezielt schweifen zu lassen». 

Bedeutet das also, dass das Mind-Wandering nicht nur negative Auswirkungen hat, die mit der damit einhergehenden Ablenkung oder der melancholischen Stimmung zusammenhängen, die durch zu viel Nachdenken über die Vergangenheit hervorgerufen wird? 

«Es stimmt, dass uns – wie einige Studien zeigen –, gedankliches Abschweifen traurig stimmen kann, wenn es vor allem autobiografische Erinnerungen betrifft», antwortet Taruffi. «Insbesondere unter Depressionen leidende Menschen empfinden das Mind-Wandering oft als eine negative Erfahrung, die sie in ihrer Zukunftsplanung blockiert und zum Grübeln über die Vergangenheit verleitet. Mehrere auf der Methode der Selbstbeobachtung (auf Englisch „Experience Sampling“) basierende Studien zeigen, dass das Mind-Wandering eine Quelle der Ablenkung darstellt. Wenn zum Beispiel Probandinnen und Probanden im Rahmen eines Experiments aufgefordert werden, eine Gedächtnisaufgabe zu absolvieren, kann man feststellen, dass die Anzahl der Fehler mit der Häufigkeit des Mind-Wanderings korreliert. Andererseits wiederum setzt gedankliches Abschweifen die Kreativität frei. Und die gute Nachricht ist, dass Musik in der Lage zu sein scheint, unsere Gedanken zu lenken und somit unseren mentalen Zustand zu steuern und unsere geistige Funktionsfähigkeit zu regulieren! Heute konzentrieren wir uns auf Experimente zur Messung der positiven Auswirkungen von Musik, die beispielsweise unter dem Einsatz der Experience-Sampling-Methode durchgeführt werden: Bei diesen Experimenten werden die Probandinnen und Probanden in zufälligen Zeitintervallen aufgefordert, anzugeben, woran sie während des Musikhörens denken.

Können Sie uns einige Antwortbeispiele nennen?

«In einem kürzlich durchgeführten Experiment habe ich erstmals die Methode der Selbstbeobachtung angewandt, um das Mind-Wandering während des individuellen (bzw. privaten) Musikhörens im Alltag zu erfassen. Über einen Zeitraum von 10 Tagen hielten sechsundzwanzig Probandinnen und Probanden mithilfe einer Smartphone-App fest, woran sie während des Musikhörens oder anderer Alltagsaktivitäten dachten, in welcher Stimmung sie dabei waren und welche Emotionen sie währenddessen erlebten. Die App war mit einer Musikwiedergabeliste verknüpft, die speziell erstellt wurde, um positive und entspannende Emotionen hervorzurufen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Musik ein wirksames Mittel zur Steuerung der Gedanken mithilfe von Emotionen darstellt, was auch die gegenseitige Abhängigkeit von kognitiven und affektiven Prozessen unterstreicht, die beide eng mit dem Musikhören verbunden sind. Was das bereits erwähnte beschleunigte Zeiterleben betrifft, so haben wir in einer anderen Studie beobachtet, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Tests, bei dem es darum ging, sich den Aufstieg auf einen Berg vorzustellen, umso schneller den Gipfel erreichten, je schneller die Hintergrundmusik war.

Gibt es auch objektivere Parameter zur Messung des Mind-Wanderings?

«Es wurden verschiedene Studien über physiologische oder neuronale Korrelate durchgeführt, von denen wir heute wissen, dass sie mit dem Mind-Wandering verbunden sind: Einige davon befassen sich zum Beispiel mit der Pupillenbewegung, d. h. mit der objektiven Beobachtung der sich je nach dem jeweiligen kognitiven Prozess verändernden Augenbewegungen. Ein weiterer Forschungsgegenstand ist das „Default Mode Network“ (DMN), das die spezifischen Schaltkreise des Gehirns betrifft, die im Ruhezustand bzw. in jenen Zeiten aktiv und typisch sind, in denen man wach ist und die Gedanken schweifen lässt. Im Rahmen einer im Jahr 2017 zusammen mit Kolleginnen und Kollegen durchgeführten Studie nutzte ich Neuroimaging-Methoden: Wir kombinierten die zur Erfassung von Gedanken angewandte Experience-Sampling-Methode mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT), um die Auswirkungen von trauriger und fröhlicher Musik auf das Mind-Wandering sowie die zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen zu untersuchen. Es stellte sich heraus, dass traurige Musik im Vergleich zu fröhlicher Musik in höherem Masse mit gedanklichem Abschweifen verbunden ist, was auf einen auf Emotionen basierenden Zusammenhang zwischen der Art von Musik und den Gedanken hindeutet». 

Die Ergebnisse dieser Studien könnten für den therapeutischen Bereich von grossem Interesse sein...

«Wir befinden uns zwar noch in einem frühen Stadium der Forschung, aber die erhobenen Daten sind vielversprechend. Sie deuten darauf hin, dass Musik wirksam eingesetzt werden kann, um die Stimmung zu regulieren und ein positives Mind-Wandering zu unterstützen. Folglich ebnen diese Daten den Weg für weitere Studien mit Fokus auf das Potenzial der Musik im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Wohlbefindens in therapeutischen Kontexten».

Eine letzte, (wenn man so will) philosophische Frage: Warum hat die Musik einen so starken Einfluss auf unseren Geist bzw., ich würde fast sagen, warum übt sie eine derartige „Macht“ über unsere Gedanken aus?

«Ich antworte mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche, der die Musik, aber auch die Kunst im Allgemeinen, als ein privilegiertes Observatorium für die menschliche Erfahrung bezeichnete. Der Grund dafür, dass sich ein Grossteil der abendländischen philosophischen Reflexionen bereits seit der Antike speziell mit der ästhetischen Erfahrung befasst, bei der es nicht um lebenswichtige Dinge im engeren Sinne geht, liegt darin, dass genau diese Distanz zwischen uns und einem Kunstwerk oder einem Musikstück es uns ermöglicht, eine wichtige Botschaft über unsere Existenz zu erfassen. Mit anderen Worten: Die Begegnung zwischen einem Werk und seinem Betrachter lässt „eine Wahrheit“ ans Licht kommen, die uns hilft, unser Leben „neu auszurichten“ und somit die Möglichkeit der Erkenntnis bietet. Musik spielt also nicht nur für Musikerinnen und Musiker eine wichtige Rolle. Noten, Lieder und Melodien offenbaren etwas über das menschliche Wesen, das über die musikalische Syntax hinausgeht und emotionale und empathische Prozesse sowie Erinnerungen, persönliche Erfahrungen, Bilder und Bewegungen betrifft».