kultur und gesundheit

Musik als Heilmittel, 4. Lektion Christian Gold: widersprüchliche Daten zur Autismus-Therapie

Sonntag, 27. November 2022 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
Christian Gold, Dozent am Norwegian Research Centre in Bergen
Christian Gold, Dozent am Norwegian Research Centre in Bergen

von Valeria Camia

Seit den 90er Jahren haben neue, zunehmend präzisere Neuroimaging-Methoden (von der Magnetresonanztomografie über die Positronen-Emissions-Tomografie bis hin zur Elektroenzephalografie, um nur einige zu nennen) es uns ermöglicht, das Gehirn genauer zu beobachten und zu untersuchen, um dessen Funktionsweise zu verstehen. In der Folge konnten Irrtümer und weit verbreitete Annahmen widerlegt werden, wie zum Beispiel, dass Musik und Sprache von weitgehend getrennten und unabhängigen Hirnnetzwerken wahrgenommen werden! Tatsächlich weiss man heute, dass beim Hören eines Musikstücks beide Gehirnhälften aktiviert werden, d. h. sowohl die linke, die für die Logik zuständig ist und auf die Sprache fokussiert ist, als auch die rechte, die für die eher intuitiven Funktionen verantwortlich ist, die Vorstellungskraft anregt und Emotionen hervorruft. 

Die Musik (egal, ob gehört, gespielt, improvisiert oder getanzt) bietet ein erhebliches therapeutisches Potenzial, und die Anwendung der Musiktherapie im medizinischen Bereich ist nicht „dem Zufall“ überlassen, sondern basiert auf wissenschaftlichen Studien. Genau mit diesen Erkenntnissen befasst sich der Kurs Musik als Heilmittel, der von der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Stadt Lugano, der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und – dieses Jahr – dem Conservatorio della Svizzera italiana organisiert wird.
Im Rahmen der insgesamt sieben Lektionen des Kurses präsentieren mehrere international renommierte Referentinnen und Referenten einige der zahlreichen Studien, die darauf hinweisen, dass Lieder und Melodien ein wahres Allheilmittel für die Gesundheit sind und ein wertvolles Hilfsmittel gegen Angst und Depression sowie bei der Behandlung verschiedener klinischer Syndrome darstellen, darunter Lese- und Lernschwierigkeiten und – in einigen Fällen – Demenz und neurodegenerative Erkrankungen. Musik wird aber auch zunehmend zur Unterstützung des Muskeltrainings eingesetzt und bietet somit eine hilfreiche Therapie für Patientinnen und Patienten mit motorischen Verletzungen. Nicht zuletzt verbessert das Musizieren offenbar die sogenannte „kognitive Reserve“ bzw. jene Hirnfunktionen, die der Entwicklung von Demenz im hohen Alter entgegenwirken. 

Wir befinden uns also gerade in einer wichtigen Phase der Forschung zur therapeutischen Anwendung von Musik. «Jetzt heisst es, die bisher erhobenen Daten auszuwerten, um die Forschungsfragen und -methoden zu präzisieren und die Wirksamkeit der Musiktherapie in grossem Massstab zu untersuchen, d. h. die Zahl der beteiligten Patientinnen und Patienten zu erhöhen und die Ergebnisse der verschiedenen Studien zu vergleichen», erklärt Christian Gold, Dozent am Norwegian Research Centre (NORCE) in Bergen und an der Universität Wien. «Dies ist notwendig, um heterogenen Gruppen in verschiedenen Kontexten Musik universell anbieten zu können.» Um dieses Ziel zu erreichen, ist es in der Tat noch ein weiter Weg: Es gibt mehrere wissenschaftliche Belege dafür, dass die Musiktherapie es ermöglicht, in einem bestimmten Umfeld, in einem bestimmten Land und mit einer bestimmten Therapeutin oder einem bestimmten Therapeuten ähnliche Ergebnisse zu erzielen wie mit einer klinischen Therapie. Die Ergebnisse sind jedoch nicht so eindeutig und die Konturen verschwimmen, wenn verschiedene Probanden miteinander verglichen und grosse, heterogene Gruppen untersucht werden.

Gold, Referent der vierten Lektion des Kurses Musik als Heilmittel (der am 14. November um 18 Uhr im Mehrzwecksaal des Campus Est in der Via La Santa 1 in Lugano abgehalten wird), fügt hinzu: «Wenn wir eine klinische Sprache verwenden wollten, könnten wir sagen, dass die 2. Phase der Forschung zur Musik als Therapie abgeschlossen ist: Es wurde also untersucht, wie (in welchen Kontexten und auf welche Weise) man den Patientinnen und Patienten Musik am besten „anbietet“ (man könnte auch sagen: verabreicht). Es wurde zudem in einzelnen Projekten getestet, dass das Musikhören keine negativen Auswirkungen auf die Patienten hat. Derzeit befinden wir uns in der 3. Phase, die vorsieht, dass grössere Patientengruppen untersucht werden, um herauszufinden, ob und inwiefern die Musiktherapie bessere Ergebnisse erzielt als bestehende Therapien. Es handelt sich um Längsschnittstudien (Langzeitstudien) und vergleichende Studien. Dies bedeutet, dass unterschiedliche Patientengruppen verglichen und verschiedene geografische Gebiete miteinbezogen werden. Darüber hinaus gilt es nun, randomisierte kontrollierte Studien (Randomised Controlled Trials) durchzuführen, d. h. Studien, bei denen die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen unterteilt werden: die Versuchsgruppe, die mit Musiktherapie behandelt wird, und die Kontrollgruppe, die nicht mit Musiktherapie behandelt wird».

Eine Studie dieser Art wurde kürzlich von Professor Gold und einem internationalen Forscherteam durchgeführt. Es ging um Musiktherapie bei Kindern mit Autismus-Diagnose (weitere Informationen finden Sie hier). «An der Studie unter dem Titel TIME-A nahmen insgesamt neun Länder auf allen fünf Kontinenten und über 300 junge Patientinnen und Patienten im Alter zwischen vier und sieben Jahren teil. Eine der beiden nach dem Prinzip der Randomisierung bzw. dem Zufallsprinzip ausgewählten Gruppen von Kindern wurde mit Musiktherapie behandelt, während die andere Gruppe von Kindern keine Musiktherapie erhielt. Nach fünf Monaten wurde bei den Kindern, die eine Gesangs- und Klangtherapie erhalten hatten, im Vergleich zu denen, die einer „traditionellen“ Therapie unterzogen worden waren, keine signifikante Verbesserung festgestellt – weder in Bezug auf die Sprache und Sprachfähigkeit noch auf die motorischen Fähigkeiten.» Nicht nur verbesserte sich der Schweregrad der Symptome in beiden Gruppen nur geringfügig, sondern «es zeigten sich auch Unterschiede zwischen den aus unterschiedlichen Ländern stammenden Kindern, die an der Studie teilnahmen», so Gold abschliessend. 

Angesichts dieser Ergebnisse (sowie der Ergebnisse früherer Studien, die hingegen positiver ausgefallen waren) gilt es einerseits, die spezifischen Fragen zu überdenken, die den wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Musik als Heilmittel zugrunde liegen, und andererseits, die derzeitigen Forschungsdesigns (Research Designs) sorgfältig bis ins Detail zu überarbeiten. «Im Falle unserer Studie an autistischen Kindern – fährt Gold fort – können wir uns beispielsweise fragen, inwiefern das Musikhören diesen Kindern helfen kann, autistische Züge zu mildern oder den richtigen sozialen Kontext zu finden, in welchem autistische Symptome akzeptiert und verstanden werden, anstatt zu versuchen, sie zu beseitigen.» Fragen wie diese (bzw. wie Musik Menschen mit Autismus helfen kann, am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen) sind Teil des Forschungsprojekts, an dem Gold derzeit arbeitet und an dem bislang nur zwei Länder beteiligt sind: Norwegen und Österreich. 

Abschliessend sei noch auf die Einführung des maschinellen Lernens (Machine Learning) hingewiesen, d. h. den Einsatz von Algorithmen und künstlicher Intelligenz, um die Komplexität der Anwendung von Musik im klinischen Bereich (auch in der Praxis) besser zu verstehen. «Der Einsatz des maschinellen Lernens ist zweifellos wünschenswert – so Gold –, ebenso wie die Anwendung objektiver und reproduzierbarer Statistiken und Messverfahren. Manche vertreten die Ansicht, dass Musik eine individuelle Erfahrung sei und jeder Mensch eine „einzigartige“ Beziehung zu Melodien und Klängen habe. Demnach wäre es sinnlos, randomisierte Studien mit einer grossen Anzahl von Probanden durchzuführen. Doch gerade durch das „Testen“ von Hypothesen an vielen Patientinnen und Patienten wird es möglich, die Vielfalt zu „managen“. Im klinischen Bereich können wir im Allgemeinen nur dann eine gezielte, individuelle Behandlung anbieten, wenn wir wissen, wie die Referenzpopulation beschaffen ist. Dies gilt auch für die therapeutische Anwendung von Musik», so Gold schliesst.