WISSENSCHAFTLICHES PUBLIZIEREN

Engagement und Fundraising: Herausforderung einer Zeitschrift
für Rehabilitation

Sonntag, 31. Oktober 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

Der Sitz der Redaktion der «Archives of Physiotherapy», die von BioMed Central (Verlagsgruppe Springer Nature) herausgegeben wird, ist im Tessin. Es ist jedoch schwierig, tragbare Kosten zu gewährleisten
von Michela Perrone

Was bedeutet es, eine wissenschaftliche Zeitschrift zu leiten? Welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten begegnet man dabei? Seit vier Jahren ist Marco Barbero, Professor an der Fachhochschule Südschweiz (SUPSI), Chefredakteur (genauer gesagt Redaktionsleiter) der Zeitschrift Archives of Physiotherapy, die sich mit dem Thema Rehabilitation befasst und seit 2015 von BioMed Central (BMC), einem Teil der Verlagsgruppe Springer Nature, herausgegeben wird.
«Wir geben eine Open-Access-Zeitschrift heraus, das heisst, dass wir unsere Artikel kostenlos zur Verfügung stellen», erklärt Barbero. «Das Besondere an unserer Zeitschrift ist, dass sie auch für die Autoren keine finanzielle Belastung mit sich bringt. Die Kosten werden nämlich von drei Organisationen getragen, die an das Projekt glauben, und zwar von meiner Universität, der SUPSI, sowie von der Società Italiana di Fisioterapia (SIF, dt. Italienische Gesellschaft der Physiotherapeuten) und der Associazione Italiana Fisioterapia (AIFI, dt. Italienischer Physiotherapeutenverband). Diese drei Organisationen besitzen den Weitblick, in ein Projekt zu investieren, das weit über die Landesgrenzen hinausgeht.»
In der Regel leisten die Autoren der in Open-Access-Zeitschriften veröffentlichten Artikel einen finanziellen Beitrag zur Deckung der Verwaltungskosten und für die kostenlose Nutzung der Inhalte durch die Leserschaft. «Die Unterstützung durch die drei Einrichtungen – fährt Barbero fort – ist für uns von grundlegender Bedeutung, da sie für die Publizierenden die Zugangsbarrieren beseitigt: Die Publikationskosten können nämlich für kleinere Einrichtungen oder bestimmte Länder, unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität der zu publizierenden Texte, durchaus eine Hürde darstellen.» 

abrakadabra

Heute ist «Archives of Physiotherapy» eine internationale Zeitschrift, die sich jedoch aus dem Italian Journal of Physiotherapy, der einst offiziellen Zeitschrift der Italienischen Gesellschaft der Physiotherapeuten (SIF) entwickelte, die von einem kleinen italienischen Verlag herausgegeben wurde. «Im Laufe der Jahre verzeichnete die Zeitschrift einen kontinuierlichen Ausbau, da es ihr gelang, immer mehr ausländische Kolleginnen und Kollegen miteinzubeziehen und Artikel aus der ganzen Welt zu erhalten», erzählt Barbero. «Es ist für uns eine grosse Ehre, dass unsere Zeitschrift von einem Verlag herausgegeben wird, der auch viel renommiertere Zeitschriften wie Nature publiziert.» «Archives of Physiotherapy» ist die einzige wissenschaftliche Zeitschrift im Bereich der Rehabilitation, die von einem Forscher aus der italienischen Schweiz geleitet wird, wobei jedoch, wie Barbero betont, «sowohl das Mitarbeiternetzwerk als auch der Redaktionsausschuss naturgemäß international besetzt sind. Die Tatsache, dass ich bei der SUPSI arbeite, ist wichtig, wirkt sich aber nicht unmittelbar auf die Inhalte der Zeitschrift aus.»

DIE ZU ERREICHENDEN ZIELE – Die Herausgabe unserer Zeitschrift durch einen so renommierten Verlag ist jedoch Ehre und Bürde zugleich, da dieser eine Reihe von Zielen festlegt, die es zu erreichen gilt, wenn man der Verlagsgruppe weiterhin angehören möchte. «Unser erstes Ziel, das wir voraussichtlich nächstes Jahr erreichen werden, besteht darin, die Indexierung in Suchmaschinen zu verbessern», erklärt Barbero. «Es geht darum, in bestimmte Datenbanken aufgenommen zu werden, die es ermöglichen, den Impact Factor zu erhöhen.» Für diejenigen, die mit der Sprache des wissenschaftlichen Publizierens nicht vertraut sind: Der Impact Factor misst das Ansehen einer Zeitschrift. Dieser Faktor hängt von der Zahl der Zitierungen ab, die die einzelnen Artikel im Laufe der Zeit erhalten. Die Idee dahinter ist, dass eine Studie als umso fundierter gilt, je öfter sie im Literaturverzeichnis anderer Werke zitiert wird.
Um jedoch zur Steigerung des Impact Factors beitragen zu können, müssen Studien in bestimmte Datenbanken aufgenommen werden, was genau das Ziel von «Archives of Physiotherapy» ist: «Der Verlag legt bestimmte qualitative und quantitative Anforderungen fest, die die jeweilige Zeitschrift zu erfüllen hat. Ich denke, dass wir nächstes Jahr bereit sein werden, uns einer Bewertung zu unterziehen», so Barbero. Der nächste Schritt wird dann darin bestehen, einen hohen Impact Factor zu erzielen: «Dafür werden wir drei Jahre Zeit haben», fügt Barbero hinzu.
Die Physiotherapie wurde lange Zeit als «zweitrangiges» Fach betrachtet: «Erst seit den 80er-Jahren wird qualitativ hochwertige Forschung betrieben», erklärt Barbero. «Davor hatten nur einige Dutzend Artikel einen echten Einfluss auf die klinische Praxis. Heute stellt PEDro, eine Datenbank für wissenschaftliche Publikationen über die physiotherapeutische Praxis, weit mehr als 40.000 Beiträge zur Verfügung: Aus diesem Grund sind entsprechende Zeitschriften für die Veröffentlichung und Verbreitung dieser Beiträge erforderlich.»

DAS PEER-REVIEW-VERFAHREN – Im Laufe der Jahre entwickelte sich die Zeitschrift «Archives of Physiotherapy» sowohl im Hinblick auf die Qualität als auch auf die Quantität der Publikationen kontinuierlich weiter: «Bis 2019 erhielten wir jährlich etwa 40 Artikel, von denen wir 60 % ablehnten», so Barbero. «Heute hingegen werden bei uns etwa 100 Artikel eingereicht und 70 % davon aussortiert. Die Tatsache, dass diese Zahl gestiegen ist, ist für uns eine wichtige Bestätigung und bedeutet, dass wir auf dem Weg sind, ein Bezugspunkt für Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt zu werden.»
Um hinter die Kulissen der Genehmigung einer Studie blicken zu können, liessen wir uns von Barbero erklären, wie das Auswahlverfahren funktioniert: «Wenn ein Artikel eingeht – erklärt er – nehme ich eine erste qualitative Bewertung vor und denke über die klinische Relevanz der Arbeit nach.» Ziel der Zeitschrift ist es nämlich, eine Brücke zwischen Forschung und klinischer Praxis zu schlagen und zu etablieren: «Es ist uns ein Anliegen, Physiotherapeutinnen und -therapeuten nützliche Informationen zur Verfügung zu stellen, um ihre Arbeit zu verbessern. Auf diese Weise möchten wir einen Beitrag zu unserer Gemeinschaft leisten.» Nach der ersten von Barbero vorgenommenen Auswahl wird die Studie von den Ressortleitern – Physiotherapeuten, die sich mit einem speziellen Forschungsgebiet befassen und somit über das nötige Fachwissen zu den vorgeschlagenen Themen verfügen – überprüft. Sobald auch diese Prüfung bestanden ist, beginnt das Peer-Review-Verfahren bzw. die Begutachtung durch Fachkollegen (der allen renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften zugrunde liegende Mechanismus): Die Studie wird von Experten auf freiwilliger Basis mit anschliessender Validierung der Ergebnisse überprüft. Wenn der Artikel am Ende dieser Phase eine positive Bewertung erhält, kann die Zeitschrift vor dessen Veröffentlichung Erklärungen oder Ergänzungen fordern. «Die mit jedem einzelnen Artikel verbundene Arbeit ist also langwierig und erfordert grösste Sorgfalt – so Barbero –, weshalb sie eine Garantie dafür ist, dass unsere Publikationen bestimmte qualitative Anforderungen erfüllen. Je mehr Artikel wir veröffentlichen, desto höher sind jedoch die Kosten.»
Sollte die Qualität weiter steigen, könnte sich die derzeitige finanzielle Absicherung (paradoxerweise) als unzureichend erweisen. «Da genau das unser Ziel ist, treiben wir auch eine Fundraising-Kampagne voran, um Institutionen und wissenschaftliche Gesellschaften aus verschiedenen europäischen Ländern zu sensibilisieren», so Barbero. «Wir gehen davon aus, dass, wenn wir ein gewisses Ansehen erlangen, auch eine finanzielle Unterstützung erwarten können.» 

Schau in die Galerie Schau in die Galerie Foto di Loreta Daulte Schau in die Galerie (2 foto)