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Der lange Weg der Forschung durch das «Labyrinth» von Alzheimer

Dienstag, 9. Juni 2020 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
Paolo Paganetti
Paolo Paganetti

Seit jeher untersucht Paolo Paganetti, Leiter des Labors für biomedizinische Neurowissenschaften am Neurocentro, die neurodegenerativen Krankheiten. Wir haben mit ihm ein Gespräch über eine der «schwierigsten» Krankheiten geführt
von Agnese Codignola

In den letzten Jahren scheint die Forschung über die durch Alzheimer verursachte Demenz und über die neurogenerativen Krankheiten generell auf der Stelle zu treten. Nachdem einige grosse multinationale Unternehmen Zig-Millionen Dollar in die Erforschung eines Heilmittels investiert haben, haben sie die Niederlage eingestanden und nicht selten ganze Forschungsbereiche geschlossen, um die Energien anderweitig zu bündeln. Und dennoch besagen alle epidemiologischen Studien, dass die Alzheimer-Fälle in absoluten Zahlen ansteigen, auch wenn die Inzidenz unter den Babyboomern (also unter den Menschen, die von Ende der 40er Jahre bis Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts geboren wurden) leicht sinkt. Es wäre also angebracht, das Geheimnis zu lüften und jene Therapien zu finden, die es bis heute de facto nicht gibt. Davon überzeugt ist Paolo Paganetti, Tessiner aus Locarno, der seine ganze Karriere den verborgenen Mechanismen eines jahrzehntelangen Prozesses gewidmet hat. Nach seinem Doktorat an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) und nach einigen Jahren an der University of California in Stanford hat Paganetti viele Jahren bei den grossen Pharmakonzernen verbracht, zuerst bei Sandoz, dann bei Novartis, um schliesslich nach einem kurzen Zwischenspiel bei einem Biotechnologieunternehmen Teil des ersten Forschungsnukleus des Neurocentro des EOC zu sein, wo er noch immer das Labor für biomedizinische Neurowissenschaften und die Forschungsgruppe für Neurodegeneration leitet, ein Team aus einem Dutzend junger Forscher, Postdocs und Studenten, welche keineswegs die Hoffnung verloren haben, die Ursachen der Neurodegeneration zu verstehen, ganz im Gegenteil.

Herr Professor, wie ist der generelle Stand bezüglich der Forschung darüber, wie die Degeneration des Nervensystems vonstatten geht? «Es gibt derzeit ein Umdenken – antwortet Paganetti. – Lange Zeit haben die Unternehmen, welche die Richtung der Forschung vorgeben, weil sie die einzigen sind, die es sich erlauben können, grosse Projekte zu verfolgen durch Investitionen in einer Höhe, über die keine öffentliche Stelle verfügt, auf langjährige Programme gesetzt und versucht, jene typischen Proteinablagerungen von den Nervenzellen der von Demenz und anderen neurodegenerativen Krankheiten Betroffenen zu entfernen. Das scheint vom Prinzip her richtig: Da diese Ablagerungen zu den wichtigsten Merkmalen verschiedener neurodegenerativer Krankheiten wie Demenz, Chorea Huntington, Morbus Parkinson, amyotrophe Lateralsklerose, Prionenerkrankungen und anderen zählen, muss man dort ansetzen. Extrem vereinfacht handelt es sich um Proteine, die sich verändern, die unlöslich werden und sich ablagern, und eben diese Tatsache fügt der Struktur der Nervenzellen schwere Schäden zu. Man hat also versucht zu verstehen, wie sich die Bildung solcher Ablagerungen vermeiden lässt, ohne jedoch im Blick zu haben, dass es bei ihrer Bildung bereits zu spät ist und dass der Schaden an der Zelle, auch wenn die Ablagerungen verschwinden, nicht mehr behoben werden kann. Die ganze Sparte hat schliesslich unter allgemeinen Schwierigkeiten der Forschung mit dem Thema Nervensystem, zum Beispiel in der Psychiatrie, zu leiden, wo ein nicht angemessenes Interesse der Unternehmen besteht, aufgrund der Schwierigkeit, Therapien für derart komplexe Krankheiten wie Schizophrenie, um nur ein Beispiel zu nennen, zu finden. So erscheint der Eindruck, dass die Forschung auf der Stelle tritt, aber dem ist nicht so.»

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Worauf denkt man im Fall der Demenz nun die Kräfte zu konzentrieren? «Die Grundidee ist es zu verstehen, was bereits vorab geschieht, also zu verstehen, was dafür sorgt, dass ein Beta-Amyloid-Protein, ein Prionenprotein, oder ein Tau-Protein, das wir alle in unserem Organismus haben, plötzlich seine Gestalt ändert und andere gleiche Proteine dazu bringt, dasselbe zu tun und toxisch zu werden. Nur wenn man an dieser Kaskade der Ereignisse ansetzt, bevor der Schaden zu ausgeweitet ist, können wir hoffen, eine Therapie zu finden, welche die Neurodegeneration blockiert oder den Fortschritt zumindest verlangsamt. Nur, wenn wir alle Details genau kennen, können wir verstehen, wie man eine frühzeitige Diagnose stellen kann, also schon viele Jahre, bevor die ersten Anzeichen am Gedächtnis, am Verhalten, an der Mobilität, usw. sichtbar werden. Die Protagonisten sind immer dieselben: Wir sind immer der Meinung, dass die genannten Proteine gemeinsam mit anderen, wie dem Alpha-Synuclein, eine absolut zentrale Rolle spielen. Aber unsere Blickweise hat sich geändert, angefangen bei der Tatsache, dass uns noch viele Basisinformationen fehlen, beispielsweise über ihre Funktionen oder ihre Lokalisierung.»

Was meinen Sie damit? «Betrachtet man beispielsweise das Tau-Protein, meinten wir zu wissen, wo es sich innerhalb der Zelle befindet, aber bei genauerer Untersuchung haben wir festgestellt, dass es sich manchmal im Zellkern befindet, also in dem Teil, der auch das genetische Material enthält, und nicht im Cytosol (Flüssigkeit, die sich im Inneren der Zellen befindet), wie man annahm. Basierend auf der Annahme, dass das Tau im Inneren des Kerns eine andere und spezifische Funktion hat, haben wir – und andere Forschungsgruppen in aller Welt – zahlreiche Studien zu dieser Besonderheit durchgeführt. Zwei Doktorandinnen in meiner Gruppe haben überprüft, ob es in diesen Fällen zu einem Funktionsverlust oder einer Funktionsveränderung kommt und wie sich das auf das Gleichgewicht der Zelle auswirkt. Es war sehr aufschlussreich. Eine der wichtigsten Erkenntnisse: Fehlt Tau, dann funktioniert die Zelle nicht, wie sie sollte. Anstatt über den sogenannten programmierten Zelltod (Apoptose) schnell eliminiert zu werden, geht sie einem langsamen Alterungsprozess entgegen, der dann wiederum die Ereignisse bedingt, die zu den Schäden führen. In diesem so funktionalen Mechanismus, der normalerweise dafür sorgt, dass unsere kranken oder auch nur beschädigten Zellen Platz machen für andere gleiche, aber gesunde Zellen, gerät etwas ins Stocken. Das kann ein guter Ausgangspunkt sein: Untersuchen, wie man die Zelle in Richtung Apoptose umlenken kann.

Dieser Ansatz scheint dem zu ähneln, den manche für die Tumoren vorschlagen: Auch in diesem Fall versucht man, der Zelle die Fähigkeit zum Absterben wiederzugeben, um zu vermeiden, dass sie sich unendlich weiter fortpflanzt. «Und in gewisser Weise ist es ja auch so: Der Organismus muss die Zellen stoppen, die dem korrekten Verlauf aus verschiedenen Gründen nicht folgen. Gelingt ihm das nicht, wird er krank. Und wahrscheinlich ist das, was wir anfänglich fast nebenbei entdeckt haben, nämlich unerwartete Verbindungen zwischen den Tumoren und den neurodegenerativen Krankheiten, kein Zufall. So haben wir beispielsweise herausgefunden, dass Tau seinen Effekt auf die Zellalterung ausübt, indem es auf einige Proteine wirkt, die typischerweise am Krebs beteiligt sind, und die wiederum bei der Demenz verändert auftreten. Ausserdem gibt es einen epidemiologischen Zusammenhang: Seit längerem hat man festgestellt, dass Patienten, die an einem Tumor gelitten haben, ein geringeres Risiko für die Entwicklung einer neurodegenerativen Krankheit aufweisen. Das ist ein weiterer Aspekt, den wir besser zu verstehen versuchen, um ein Gesamtbild zusammenzufügen, das viele Überraschungen bereithalten und auch ganz anders sein könnte, als wir viele Jahre lang dachten.»

Können Sie uns ein Beispiel dafür nennen, dass die Sachlage nicht so ist, wie vermutet? «Ein Indiz ist das Verhalten der Prionenproteine, die immer noch geheimnisvoll sind, aber nicht mehr so sehr wie vor wenigen Jahren. Man weiss, dass sie ihre Gestalt ändern und die Botschaft, die Gestalt zu ändern, an die umliegenden Proteine desselben Typs übertragen, allerdings ohne einen klassischen Botenstoff, d.h. ohne genetisches Material, und das zerstört das Gehirn. Man weiss auch, dass dieses Verhalten nicht nur die Prionen aufweisen, sondern fast alle bzw. alle anderen Proteine, die an der Neurodegeneration beteiligt sind. Wie aber können sie ihre räumliche Struktur ändern? Und wie erfolgt die Übertragung an ihre nahegelegenen Zwillinge? Das fragen wir uns seit langem und wir haben es noch nicht geklärt, auch wenn wir allmählich dahinterkommen. Wahrscheinlich gibt es Stoffwechselverläufe, die wir noch nie in ihrer Gesamtheit beobachtet haben und die deshalb in unseren klassischen Schemata nicht vorkommen. Zwei weitere Doktoranden arbeiten gerade mit ermutigenden Ergebnissen an der Vertiefung dieser Aspekte. Wir hoffen, dass uns eine detaillierte Untersuchung der Abläufe behilflich sein kann, viel besser zu verstehen, was geschieht, und dass sich die erhaltenen Informationen für die künftige Behandlung als zentrale Bausteine erweisen.»

Gibt es also Hoffnung, diese Krankheiten wirklich heilen zu können? «Sicher, aber es wird eine gewisse Zeit dauern. Ohne die grossen Hoffnungen schmälern zu wollen, die wir in die Therapien setzen, die derzeit am Patienten erprobt werden, war es in gewisser Hinsicht erforderlich, ganz von vorne anzufangen und den Fokus auf grundlegenden Mechanismen zu lenken, die zum Teil unbekannt waren. Das erfordert Zeit und Geduld, Ausdauer und Vertrauen in die Grundlagenforschung, denn sie allein kann uns die Antworten liefern, die wir suchen.»

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