GEGEN DEN STROM

Das Wesen der Kreativität: Erfindergeist, aber
auch gewöhnlicher Beruf

Donnerstag, 14. Oktober 2021 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana

Im Gespräch mit Stefano Arienti, einem der Protagonisten der Tagung «Die Wissenschaft nach den Regeln der Kunst» in Lugano. Interessanter zeitgenössischer Künstler, er verwandelt Alltagsgegenstände in Kunst
von Valeria Camia

Die eine bedient sich einer fliessenden und bewusst mehrdeutigen Sprache, die andere hingegen einer starren und präzisen. Die eine wird zunehmend spezifischer und unterwirft sich anderen Disziplinen – vom Kino über die Mode und Schauspielkunst bis hin zum Fernsehen (unaufhaltsame Quellen der Bildproduktion) –, während die andere universell wirkt. Die Rede ist von Kunst und Wissenschaft. Zwei Bereiche, die zwei verschiedenen, sehr weit voneinander entfernten Welten angehören zu scheinen. Ist dies wirklich der Fall? Stefano Arienti, einer der interessantesten zeitgenössischen Künstler Italiens, der Alltagsgegenstände (darunter Telefonbücher, Comics, Zugfahrpläne und Poster) in Skulpturen verwandelt, die ihren Betrachter verblüffen und das kommunikative Potenzial des Bildes verringern, ist der Meinung, dass Kunst und Wissenschaft mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint. «Sie teilen zum Beispiel die Neugier auf die Wirklichkeit sowie den Entdeckungsdrang und den schöpferischen Geist», so der Künstler, der zusammen mit Paolo Mazzarello (ordentlicher Professor für Medizingeschichte an der Universität Pavia) Protagonist der am Donnerstag, den 14. Oktober, in der Eingangshalle des LAC Lugano stattgefundenen Tagung «Die Wissenschaft nach den Regeln der Kunst» war. Ausserdem sind sowohl die Kunst als auch die Wissenschaft in die soziale Dimension integriert, insofern, als dass sowohl der Arzt als auch der Künstler «in die Welt eintauchen, in der sie leben und von der sie ein Teil sind – so Arienti –, und versuchen, wenngleich auf unterschiedliche Weise, die Essenz des Lebens zu vermitteln».
Die Wissenschaft zielt jedoch nicht nur darauf ab, das Leben zu beschreiben, sondern auch zu erklären und, wenn möglich, zu verbessern. In seiner Rede über die Kreativität der Wissenschaft zitierte Paolo Mazzarello den französischen Mathematiker Henri Poincaré: «Kreativität bedeutet, bestehende Elemente auf nützliche Weise neu zu verbinden» (d. h. um Erklärungen oder Lösungen zu finden).

Gilt das auch für die Kunst? Herr Arienti, wie soll zum Beispiel Ihre Kunst, die in verschiedenen Räumen – profanen und religiösen, privaten und öffentlichen – ausgestellt wird, die Gegenwart und die Gesellschaft heilen?

«Sehen Sie, ich habe keine soziale Mission zu erfüllen» lautet Stefano Arientis «ketzerische» Antwort. «Ich bin ein Profi und meine künstlerische Produktion hängt von meinen Auftraggebern ab. Die Vorstellung, dass Künstler stets ihre eigene Meinung zum Ausdruck bringen und zur Heilung der Gesellschaft beitragen wollen, ist leider ein tief verwurzeltes Klischee.»

Erklären Sie das bitte genauer: Sie denken also nicht, dass Künstler in gewisser Weise dazu aufgerufen sind, eine Art Heilungsauftrag zu erfüllen, und Verantwortung für Bereiche wie beispielsweise die Gesundheit der Allgemeinheit tragen?

«Es mag sein, dass einige meiner Kolleginnen und Kollegen ihrer Kunst einen spezifisch sozialen Charakter verleihen. Ich persönlich erwarte nicht, dass meine Projekte eine soziale oder praktische Unterstützung für Menschen in Schwierigkeiten darstellen. Ich stehe der weit verbreiteten Auffassung, Künstlerinnen und Künstler seien Individuen, die etwas „Bestimmtes“ – sei es ein Grundsatz, ein Wert oder ein Ideal – ausdrücken wollen und sich dazu der Kunst bedienen, sehr kritisch gegenüber. Nichts könnte wirklichkeitsferner sein. Die Situation eines Künstlers ist keineswegs einfach und alles andere als perfekt. Kunstschaffende sind Profis, die genau wie Ärzte oder Journalisten mit ihrer Tätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Künstler sind Künstler, weil sie von der Gesellschaft für ihre berufliche Funktion anerkannt werden. Es genügt nicht, sich selbst zum Künstler zu erklären. Es gilt auch, die Notwendigkeit einer künstlerischen Anerkennung zu akzeptieren, die nur von anderen kommen kann.» 

Fühlen Sie sich denn nicht ein wenig wie ein Influencer, um einen aktuellen Modebegriff zu verwenden? Spüren Sie keine soziale Verantwortung?

«Man muss die Figur des Künstlers von seinem Werk unterscheiden. Welchen Einfluss übt ein Künstler im Vergleich zu einem Fussballer, Sänger oder Schauspieler aus? Vielmehr sind es seine Werke, die dazu verwendet werden, die Gesellschaft zu beeinflussen, und zwar, würde ich sagen, nicht vom Künstler selbst. Künstler bedienen sich oft absichtlich einer mehrdeutigen Sprache, um mit ihren Werken bewusst relativ vage Botschaften zu vermitteln. Sie können sich diesen Mangel an Klarheit aufgrund ihrer Nähe zur Welt der Macht, insbesondere der wirtschaftlichen oder institutionellen, leisten: Kunstwerke sind in der Lage, sich von ihrem Schöpfer loszulösen, um unabhängig zu existieren, und nehmen die Bedeutungen und Funktionen an, die der Käufer ihnen zuweisen will und kann.»

Es genügt also nicht, wunderbar malen oder bestimmte Materialien auf einmalige Weise bearbeiten zu können, um ein Künstler zu sein? 

«Selbstverständlich nicht! Nehmen wir meinen Fall: Ich habe nicht Kunst, sondern Landwirtschaft studiert. Auf dem Gebiet der Kunst habe ich als kleiner Handwerker begonnen. Jedes Mal, wenn ich jemandem zeigen muss, wie man einen Bleistift richtig hält, gerate ich in Schwierigkeiten. Nichtsdestotrotz habe ich neue Techniken erfunden und für mein Schaffen eine Art gesellschaftlicher Anerkennung erhalten. Die Gesellschaft hält mich für einen Künstler. Und genau deshalb bin ich einer. Man muss den eigenen Ruf aufs Spiel setzen und hoffen, dass man von der Gesellschaft als Künstler anerkannt wird. Denken Sie zum Beispiel an Vincent Van Goghs Künstlerkarriere. Hätte Johanna Bonger damals seine Gemälde nicht gerettet, so würden wir heute nicht über ihn sprechen. Das Künstlerdasein hat zweifellos seine Vorteile, ist aber gleichzeitig auch sehr belastend. Um zu werden, was ich heute bin, habe ich meinen Ruf aufs Spiel gesetzt und stecke nun beruflich fest. In meinem Alter wäre es nicht einfach, und vermutlich auch gar nicht möglich, mich neu zu erfinden. Meine soziale Rolle entspricht meinen Fähigkeiten. Ich mache Kunst, weil jemand mich für einen Künstler hält und meine Werke anerkennt.»