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Cybermobbing: Mehr Forschungen, um zu verstehen, was im Gehirn von Opfern und Tätern passiert

Freitag, 29. April 2022 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana

Die Experten warnen: Neue neurobiologische Studien sind nötig. An vorderster Front die Forscherin in Sozialen Neurowissenschaften Rosalba Morese (USI). Ende Mai findet zudem in Lugano eine von ASPI veranstaltete Konferenz statt
von Monica Piccini

Cybermobbing ist das grösste Risiko, dem man online ausgesetzt sein kann: Das denken laut der Daten des Osservatorio Indifesa 40 % der Mädchen. Als Antwort auf diese Zahlen sind mehr neurowissenschaftliche Studien erforderlich, um Jugendliche zu schützen und so schnell wie möglich, Präventions- und Interventionsstrategien zu bestimmen. Der Aufruf kommt auch aus Lugano, wo die Expertin in Sozialen Neurowissenschaften Rosalba Morese, Forscherin an der Università delle Svizzera italiana (USI), zusammen mit den Kollegen Claudio Longobardi der Universität Turin und Robert Thornberg der schwedischen Universität Linköping die neuesten Forschungsergebnisse zur „Peer-Viktimisierung” im Schultalter zusammengetragen hat. Der Beitrag von mehr als 60 Forschern mit unterschiedlichem Hintergrund, von New Mexico bis China, wurde danach in einer Sonderausgabe von Frontiers in Psychology veröffentlicht, die auch als E-Book mit dem Titel „Cyberbullying and Mental Health: An Interdisciplinary Perspective” erschienen ist.

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«Obwohl die wissenschaftliche Forschung Cybermobbing als Risikofaktor für die psychische Gesundheit der Jugendlichen identifiziert hat (von Isolation über Depression bis hin zu extremen Fällen von Suizid), ist wenig über die möglichen beteiligten neurophysiologischen Mechanismen bekannt», fasst Morese zusammen, die an der Fakultät für Kommunikation, Kultur und Gesellschaft der USI arbeitet. «Der interdisziplinäre Ansatz zwischen dem neuen Forschungszweig der Sozialen Neurowissenschaften (der es uns ermöglicht zu verstehen, was in unserem Gehirn in Bezug auf verschiedene soziale Verhaltensweisen passiert) und der Psychologie kann uns dabei helfen, die Faktoren und Vorgänge zu verstehen, die an Online-Beleidigungen und Provokationen, sowohl als Opfer als auch als Täter, beteiligt sind». Die Forscher betonen auch die Bedeutung von Techniken der Neurobildgebung (Magnetresonanztomographie und andere), um die Auswirkungen des Cybermobbing auf die psychische Gesundheit besser zu verstehen.

In Bezug auf die soziale Distanzierung durch Covid-19 der letzten zwei Jahre, «haben einige Autoren, die in der Sonderausgabe des E-Books vertreten sind - so Morese weiter - den Zusammenhang zwischen Cybermobbing und Isolation untersucht und ein konsolidiertes Wissen für diejenigen hervorgehoben, die sich mit Sozialen Neurowissenschaften befassen: Wenn wir uns ausgeschlossen fühlen, werden Schaltkreise im Gehirn aktiviert, die mit körperlichem Schmerz verbunden sind, wie dies bei Verletzungen, Schnitten oder Verbrennungen der Fall ist». Das Unbehagen der von Cybermobbing-Episoden Betroffenen ist also nichts Abstraktes, sondern entspricht einem spezifischen neurophysiologischen Substrat. «Nicht nur das: Wenn wir sozial mit anderen verbunden sind und uns zu unserer Bezugsgruppe zugehörig fühlen, ein Grundbedürfnis im Jugendalter, werden im Gehirn Schaltkreise aktiviert, die mit Freude verbunden sind. Im Falle eines jugendlichen Mobbing-Opfers ist dagegen die am weitesten verbreitete Form von Beziehungsmobbing die soziale Ausgrenzung».

Im Jahr 2019 untersuchte Professorin Morese mit einer Gruppe von Forschern der Universität Wien die soziale Ausgrenzung mit einem Experiment, an dem 100 Mädchen teilgenommen haben: Studien besagen in der Tat, dass es einen Unterschied zwischen den Geschlechtern in Bezug auf soziale Reize gibt und dass Frauen empfindsamer sind. Diese Mädchen nahmen an einem im Bereich der Neurowissenschaften sehr bekannten virtuellen Spiel teil, das sich Cyberball nennt, während ihre Gehirnaktivität mit funktioneller Magnetresonanztomographie, einer nicht-invasiven Neurobildgebung überwacht wurde. Die Teilnehmerinnen wurden gebeten, den Joystick zu benutzen, um einen Ball zu fangen und ihn zwei anderen virtuellen Spielerinnen zuzuspielen, die in einem Sichtgerät erschienen. Ein sehr einfaches Spiel, bei dem man sich den Ball zuspielt, bis die virtuellen Spieler ohne Grund aufhören, den Ball der betreffenden „Spielerin“ zuzuspielen, wodurch sie aus dem Spiel ausgeschlossen wird. «Es genügt ein Ausschluss nach nur 8 Ballpässen, um die Aktivierung von Gehirnbereichen auszulösen, die normalerweise bei körperlichen Schmerzen aktiv sind», erklärt die Expertin. Die schweizerisch-österreichischen Forscher gingen einen Schritt weiter und fragten sich danach, was man tun könnte, um diesen sozialen Schmerz zu lindern, was eine gültige wissenschaftliche Hilfe wäre. Die Antwort lautete: Soziale Unterstützung.

«Wir haben uns auf zwei unterschiedliche Arten von Unterstützung durch eine Freundin konzentriert: Physische Unterstützung durch eine sanfte Berührung und Bewertungsunterstützung durch das Senden von Textnachrichten wie auf einem Smartphone - erzählt Morese. - Nachdem wir die Mädchen ein paar Minuten lang Cyberball spielen liessen, liessen wir im ersten Fall eine Freudin jeder Spielerin in den MRT-Raum, die ihr 3 Minuten lang die Hand hielt, bevor sie das virtuelle Spiel erneut aufnahm. Im zweiten Fall hingegen las die Gruppe Spielerinnen die von einer Freundin ausserhalb des Raums gesendeten Nachrichten, um sich zu trösten». Aus den Ergebnissen ging hervor, dass «der Körperkontakt den Schmerz lindert, der durch soziale Ausgrenzung entsteht (die Aktivierung der beteiligten Gehirnbereiche nimmt ab), während das Lesen der Nachrichten den Schmerz der Ausgrenzung verstärkt, denn in dem Moment, in dem die Spielerinnen sie gelesen haben, auch verstanden haben, warum sie ausgegrenzt wurden. Und als sie wieder Cyberball spielten, erhöhte ihr Gehirn die Aktivierung der Gehirnbereiche, die dem Gefühl von Traurigkeit entsprechen, aber auch denen die normalerweise bei Depression zu finden sind». Die meisten von uns benötigen kein Gehirn-Scan, um zu wissen, dass Körperkontakt den Schmerz der Zurückweisung lindert, aber jetzt gibt es wissenschaftliche Beweise dafür.

KONGRESS ENDE MAI - Die komplexen Themen im Zusammenhang mit Cybermobbing werden in Lugano (Palazzo dei Congressi - Kongresszentrum) auch während des Kongresses Bevor es geschieht!, diskutiert, die vom 23. bis 25. Mai von ASPI (Fondazione della Svizzera Italiana per l’Aiuto, il Sostegno e la Protezione dell‘Infanzia) veranstaltet wird.