Die Meinung

Covid, die Daten bringen wenig, wenn der Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht berücksichtigt wird

Antonietta Mira, Ilaria Capua
Sonntag, 25. Juli 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

von Antonietta Mira, Ilaria Capua

Seit den eineinhalb Jahren Pandemie macht sich eine Geschlechterfrage breit, die auf den bereits konsolidierten Untersuchungen über die Gendermedizin beruht, aber auch weitere soziale und wirtschaftliche Aspekte betrifft. In einem vor kurzem auf Nature Communications veröffentlichten Artikel (6.7.21) liest man, dass die Geschlechter- und Genderunterschiede die Inzidenz der SARS-CoV-2 Infektion, die Sterblichkeit durch COVID-19 sowie die Häufigkeit und Schwere der Nebeneffekte der pharmakologischen Therapien beeinflussen. Im Weiteren hebt der Artikel hervor, dass der Grossteil der aktuellen klinischen Studien über SARS-CoV-2 und COVID-19 trotzdem die Unterscheidung nach Geschlecht/Genus in keiner Weise erwähnt. Ein weiterer, in The Lancet veröffentlichter Artikel (5.3.2021) rückt die Überprüfung der Impfstoffe gegen COVID-19 in den Vordergrund und betont, dass die Datenauswertung mit Unterscheidung nach Geschlecht, die noch nicht automatisch vorgenommen wird, von grossem Vorteil wäre für die rechtlichen und öffentlichen Entscheidungen sowie für die Planung von Massenimpfprogrammen.

Aber da ist nicht nur der biologische oder biomedizinische Aspekt. Die Pandemie bringt soziale und finanzielle Auswirkungen für die Frauen mit sich. Ein Thema betrifft das zusätzliche Arbeitspensum durch die Betreuung und Beschulung der Kinder zuhause, das deutlich auf den Frauen als auf den Männern lastete und sich negativ auf die weibliche Beschäftigung auswirkte. Ausserdem sind die Mitarbeiter im Gesundheitswesen, die an vorderster Front gegen COVID-19 kämpfen, zu 70% Frauen, wodurch sie einem höheren Infektions- und Reinfektionsrisiko ausgesetzt sind. Im Vergleich zu den Männern übernehmen die Frauen bis zu zehn Mal mehr nicht vergütete Pflegearbeit in den Familien und haben somit ein höheres Risiko, finanziell nicht abgesichert zu sein. Und schliesslich scheinen die medizinischen Kosten für wegen COVID-19 stationär behandelte Patientinnen bei vergleichbaren Faktoren wie Alter und Vorerkrankungen niedriger zu sein als bei Männern. 

Wir hätten gerne Daten, um diese und andere Behauptungen überprüfen und präzisieren zu können. Aber woher sollen wir sie nehmen?
Daher unser Vorschlag, der die aktuelle Praxis kippt. Die – in vielen Ländern verbreitete – Politik der nachträglichen Berücksichtigung der Dimension Geschlecht und Gender bei der Datenerhebung, wenn sie als zweckdienlich erachtet wird, ist aus zahlreichen Gründen im Wesentlichen obsolet. Das gilt sowohl im Hinblick auf die coronabedingt generierten Daten, als auch generell für alle Gesundheitsdaten sowie noch allgemeiner und mit mehr Weitblick für alle personenbezogenen Daten. Hier ein paar Gründe:
Zunächst ist es schwierig und kostenaufwendig vorab zu bewerten, ob und in welchem Umfang die Dimension Gender für den spezifischen Zweck, für den die Daten erhoben wurden, relevant ist. Ein eklatantes Beispiel hierfür stammt aus der Kardiologie, wo man lange Zeit nicht erkannt hatte, dass Frauen bei Herzinfarkten andere Symptome zeigen als Männer – eine Frage, die über Leben und Tod entscheidend sein kann.
Ein weiterer Grund hat mit der Tatsache zu tun, dass der Wert der Daten in dem Masse zunimmt, in dem wir sie wiederverwenden können, auch zu Zwecken, die vorab nur schwer vorhersehbar sind. Die Daten können Diskussionen entfachen, sind aber nicht wie Streichhölzer: Werden sie einmal verwendet, werden sie nicht verbraucht, sondern ganz im Gegenteil. Je häufiger sie zu unterschiedlichen Zwecken genutzt werden, desto wertvoller sind sie. Ein guter Wissenschaftler ist in der Lage, interessante Fragen an bereits vorliegende Daten zu stellen, die ein anderer zu anderen Zwecken gesammelt hat. Hinzu kommt, dass das Speichern dieser Daten zu immer geringeren Kosten ermöglicht, diese Daten auch ungeachtet der Fragestellungen aufbewahren zu können. Neben dem klassischen Paradigma der statistischen Untersuchung, bei der Daten zur Beantwortung spezifischer Fragen erhoben werden, ist eine neue Weise, Wissenschaft zu betreiben, am Aufstreben. Lake-Daten – also strukturierte und integrierte Daten, die sich für verschiedene Zwecke eignen – lösen interessante Fragen aus, indem sie mit Algorithmen künstlicher Intelligenz und nach statistischen Modellen ausgewertet werden, die dann Muster und Zusammenhänge aufzeigen, die eine weitere Vertiefung und Analysen verdienen.

Die OWZE und die UNO haben Richtlinien, die bei der Bewertung helfen, ob die Unterscheidung nach Gender für eine Studie relevant ist und ob in diesem Fall mit der Datenerhebung mit der Dimension Gender fortgefahren werden soll. Wir aber sind der Meinung, dass es wirklich an der Zeit für einen anderen Ansatz ist. Anstatt uns vorrangig damit zu befassen, ob Gender-Daten erfasst werden sollen, sollte dies bereits der Grundsatz sein. Wir denken an einen «embedded» Ansatz: Die post-pandemischen Daten müssen die Dimension Geschlecht und Gender berücksichtigen, andernfalls werden sie als unvollständig gelten und können für weitere Untersuchungen oder Studien nicht verwendet werden.

Bezüglich der Schweiz wurde vor rund einem Jahr (11.6.2020) ein Antrag im Parlament gestellt, der forderte, dass «in allen wichtigen Statistiken und in allen wichtigen Studien auf Bundesebene […] die Auswirkungen untersucht und präsentiert werden sollen, welche die behandelten Gegenstände auf die beiden Geschlechter haben.» Obwohl der Bundesrat die Ablehnung des Antrags vorgeschlagen hatte, haben zunächst der Ständerat (24.9.20) und dann der Nationalrat (3.3.21) für seine Annahme gestimmt. Das bedeutet, dass die Datenerhebung in der Schweiz bereits jetzt verbessert werden muss mit Bezug auf die Dimension Geschlecht, der Beschluss gilt für alle eidgenössischen Ämter. Die spezifischen Leitlinien werden wahrscheinlich vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau erarbeitet und diesbezüglich gibt es sogar bereits ein Dokument für die Gleichstellungsstrategie 2030, in dem der oben erwähnte Antrag ausdrücklich erwähnt wird und man in Bezug auf die geschlechterspezifische Auswirkung der Daten eine Verbesserung bei der Vorbereitung föderaler Statistiken und Studien verlangt/vorsieht.
Es ist bedeutend, dass man in der Schweiz in diesem Jahr 50 Jahre Wahlrecht für Frauen, 30 Jahre seit dem ersten grossen Frauenstreik und 25 Jahre seit Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes feiert. Allesamt wichtige Jubiläen, die jedoch auch in gewisser Weise betonen, wie spät diese Errungenschaften verglichen mit anderen Ländern in der Schweiz Einzug hielten. In Bezug auf die Datenerhebung mit der automatischen Dimension Geschlecht aber erweist sich die Schweiz als wirklich fortschrittlich.

Die Pandemie hat Tod, Leid und Einkommenseinbussen mit sich und die vorherrschenden Gleichgewichte ins Wanken gebracht. Genau aus diesem Grund muss aus den Trümmern der Pandemie ein neues Bewusstsein entstehen, das uns in eine bessere Dimension, geprägt von mehr Respekt und Inklusion, befördert. Der Respekt und die Untersuchung der Unterschiede in der Dimension Geschlecht und Gender darf nicht länger im Ermessen der Forschung liegen.
Es könnte eine der vielen Lektionen sein, die wir aus der aktuellen «Krise» lernen – ein Ausdruck, der auf Chinesisch mit den Ideogrammen 危機 ausgedrückt wird – und den wir von «Gefahr» 危 in «Chance» 機 wandeln müssen.