Fortschrittliche Techniken

Biologie? Eine Frage der Physik, Mathematik und künstlichen Intelligenz...

Sonntag, 27. November 2022 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana

Interview mit Andrea Cavalli, Gruppenleiter am IRB in Bellinzona. Innovative Systeme ermöglichen es, selbst kleinste Veränderungen in der Proteinform zu identifizieren, die zu Tumoren und anderen Krankheiten führen können
von Agnese Codignola

Was ist computergestützte Strukturbiologie? Womit befasst sich diese Disziplin und zu welchem Zweck? Man muss bei diesen grundlegenden Fragen ansetzen, um den Kern der möglicherweise geheimnisvoll klingenden Forschungstätigkeit, die in den letzten Jahren unverzichtbar geworden ist und sich erheblich weiterentwickelt hat, besser zu verstehen. Das Labor für Computational Structural Biology des Forschungsinstituts für Biomedizin (IRB) in Bellinzona, das von Andrea Cavalli geleitet wird – der nach einem Physikstudium und einem Doktorstudium in Mathematik an der Universität Zürich eine mehrjährige Weiterbildung an der Abteilung für theoretische Chemie der University of Cambridge (Grossbritannien) absolvierte –, hingegen hat ganz und gar nichts Geheimnisvolles an sich. Vielmehr entwickelt sich das Labor immer mehr zu einem integralen Bestandteil sowohl von translationalen Forschungsprojekten, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Forschungsgruppen des Vereins Bios+ und anderer Tessiner Einrichtungen, die sich an Patienten wenden, durchgeführt werden, als auch von Grundlagenstudien, die zum Verständnis physiologischer und pathologischer Mechanismen beitragen.

Cavalli erklärt: «Alle Lebewesen sind aus Biomolekülen aufgebaut, die jeweils eine bestimmte Form im dreidimensionalen Raum aufweisen. Diese Form, oder besser gesagt Struktur reagiert empfindlich auf alle typischerweise in der Umwelt auftretenden Veränderungen – wie z. B. chemische oder physikalische Umwelteinflüsse (Temperatur, pH-Wert, chemische Wirkstoffe usw.) – und verändert sich dementsprechend. Manchmal handelt es sich dabei um offensichtliche Abweichungen, wie beispielsweise, wenn sich die Ausrichtung, die entweder nach rechts oder links erfolgen kann, umkehrt. Sehr oft handelt es sich jedoch um extrem kleine Veränderungen, die z. B. einzelne Atome, chemische Verbindungen oder winzig kleine Molekülteile betreffen. Doch selbst scheinbar unbedeutende Veränderungen können in einem komplexen Organismus wie dem menschlichen Körper verheerende Folgen haben: Wir untersuchen genau diese Vorgänge».

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Um herauszufinden, wie die Struktur z. B. eines Proteins genau beschaffen ist, war es bis vor einigen Jahren notwendig, das Protein zu kristallisieren, d. h. man musste es isolieren und reinigen, bis es in ausreichender Menge vorhanden war, um Kristalle bilden zu können: ein stets langwieriges, aufwändiges und kostspieliges Verfahren, das oft nicht durchführbar war. Anschliessend wurde der Kristall mit Röntgenstrahlen durchleuchtet, um ein Bild zu erhalten, das Aufschluss über die strukturellen Merkmale gab (man denke beispielsweise an das wohl berühmteste Röntgenbild dieser Art, nämlich an das im Jahr 1952 von Rosalind Franklin erzeugte „Foto 51“ des DNA-Kristalls, das später zur Aufklärung der Doppelhelixstruktur beitrug). Alternativ dazu wurden fortgeschrittene Formen der Mikroskopie eingesetzt, die stets mit einer komplexen und aufwändigen Forschungsarbeit verbunden waren. Doch dank Fachkenntnisse wie Cavallis und der Unterstützung durch Programme der künstlichen Intelligenz zur schnelleren Gensequenzierung, die wesentliche Aspekte dieser Art von Arbeit übernehmen können, gilt all dies heute als überholt.
Cavalli fügt hinzu: «Im Rahmen unserer Studien kommen Programme zum Einsatz (daher die Bezeichnung „computergestützte Strukturbiologie“ der entsprechenden Disziplin), die ausgehend von wenigen Informationen, wie z. B. einer bestimmten Aminosäuresequenz eines Proteins, eine erste hypothetische Struktur des untersuchten Biomoleküls erstellen können. Die physische Präsenz des Proteins ist also nicht mehr erforderlich, was einen riesigen Schritt nach vorne bedeutet. Es handelt sich jedoch sozusagen nur um einen ersten Schritt nach vorn. Nachdem die Struktur ermittelt wurde, geht man zum klassischeren Teil der Biologie über, der im Labor erfolgt und darin besteht, alle möglichen strukturellen Veränderungen zu erforschen.» Der Experte erklärt, dass man, wenn man die Struktur eines bestimmten Biomoleküls kennt, diese auf jegliche Anomalien untersuchen kann, wie beispielsweise auf solche, die durch eine Mutation im Gen, das die Information für die Codierung des Moleküls enthält, oder durch äussere Störfaktoren verursacht werden. An diesem Punkt kann man dann auch Wege finden, das Biomolekül zu korrigieren, um es wieder in den Normalzustand zu versetzen. Cavalli fügt hinzu: «Wenn wir wissen, wo genau sich die veränderte Stelle befindet, können wir Medikamente entwickeln, die entweder das „falsche“ Molekül blockieren oder darauf abzielen, dessen Auswirkungen zu bekämpfen. Alternativ dazu können wir versuchen, das richtige Molekül zuzuführen, sofern dies möglich ist. In anderen Fällen kann all dies einerseits zur Früherkennung von Krankheiten beitragen, die noch keine Symptome zeigen und deshalb rechtzeitig verlangsamt, bekämpft oder gestoppt werden könnten, und andererseits zur Diagnosebestätigung». 

ALLE AUGEN AUF DAS CORONAVIRUS – In den letzten Monaten hat auch die breite Öffentlichkeit verstanden, was es bedeutet, wenn sich auch nur sehr kleine Bereiche eines bestimmten Proteins verändern, da sie genau dies beim sogenannten Spike-Protein des Coronavirus SARS-CoV-2 mehrfach beobachten konnte. Diese winzigen Veränderungen führten zur Entstehung neuer Varianten sowie zu einer reduzierten Wirksamkeit der Impfstoffe und monoklonalen Antikörper. Auch Cavalli befasste sich mit SARS-CoV-2, was unter anderem – wie er selbst erzählt – den Fördermitteln des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung zu verdanken war: «Wir untersuchten die Entwicklungsdynamik eines Virus, das zum ersten Mal einen neuen Wirt, nämlich den Menschen, infizierte. Unser Ziel bestand darin, auf der Grundlage der Struktur und Veränderungen dieses Virus dessen Weiterentwicklung vorherzusagen, um herauszufinden, an welchen Stellen es am stabilsten bzw. am wenigsten anfällig für Veränderungen war. Das Ergebnis waren monoklonale Antikörper, die nicht wie üblich gegen ein einziges Target, sondern gegen zwei Targets des Spike-Proteins gerichtet waren. Beide Targets befanden sich an Stellen, die aufgrund ihrer wesentlichen Rolle im Hinblick auf die Struktur des Virus weniger anfällig für Mutationen waren. Studien dieser Art tragen ausserdem zu einem besseren Verständnis des allgemeinen Verhaltens des Virus sowie der Infektionsmechanismen und jener Mechanismen bei, die es dem Virus ermöglichen, derart grosse Schäden anzurichten, und sie sind möglich, weil alles mit der Bindung an die Rezeptoren der Wirtszellen beginnt: Dieses Phänomen führt zu strukturellen Veränderungen und setzt eine Kette aufeinanderfolgender Ereignisse in Gang. Mit anderen Worten: Die Struktur enthält so gut wie alle wichtigen Informationen zur Funktion.» Die bispezifischen Antikörper, die sowohl allein als auch in Kombination mit anderen Medikamenten eingesetzt werden können, werden derzeit im Hinblick auf den therapeutischen Einsatz untersucht. Die Arbeit der Forschungsgruppe erstreckt sich auch auf andere Bereiche, die vor der Pandemie erforscht wurden.

ANWENDUNGEN IN DER ONKOLOGIEEiner der Bereiche, in denen die Zusammenarbeit am fruchtbarsten war, ist die Onkologie, dank der Arbeit mit der Forschungsgruppe von Andrea Alimonti und von Carlo Catapano des IOR. «Dank der Studien zur Strukturanalyse konnten wir mehr über die Funktion eines Gens namens PTEN herausfinden, dessen veränderte Version bei zahlreichen Krebsarten auftritt», erklärt Cavalli. «Wenn das PTEN-Gen keine Mutationen aufweist, fungiert es als Tumorsuppressor, d. h. es hält eine etwaige unkontrollierte Vermehrung von Tumorzellen in Schach. Wenn es jedoch mutiert, kann es diese Funktion nicht mehr erfüllen und lässt somit viel Raum für das Tumorwachstum. Aus diesem Grund ist es sowohl für das allgemeine Verständnis der Tumorentwicklung als auch für die Suche nach spezifischen Medikamenten zur Hemmung der mutierten Form dieses Gens von grundlegender Bedeutung, genau zu verstehen, welche strukturellen Veränderungen dazu führen, dass es seine Funktion verliert».

STUDIEN ÜBER SELTENE KRANKHEITEN – Ein weiterer Bereich, in dem diese Studien einen wichtigen Beitrag leisten, der bis vor einigen Jahren noch undenkbar war, ist jener der seltenen Krankheiten, die sehr oft auf Anomalien in der Struktur sogar eines einzelnen Proteins zurückzuführen sind und auch als „Proteinfehlfaltungserkrankungen“ bzw. als Erkrankungen bezeichnet werden, die durch eine „fehlerhafte Faltung“ („misfolding“) von Proteinen verursacht werden. Dies ist zum Beispiel bei der Immunglobulin-Leichtketten-Amyloidose der Fall. Hierbei handelt es sich um eine potentiell schwerwiegende Erkrankung, die zu einer Akkumulation von Proteinfibrillen in verschiedenen Organen und Geweben führt und ihren Ursprung in der Fehlfaltung eines oder mehrerer sogenannter amyloidogener Proteine hat (von denen mehr als 35 bekannt sind). Zusammen mit Lucio Barile – Gruppenleiter des Laboratory for Cardiovascular Theranostics am Herzzentrum Istituto Cardiocentro Ticino des Tessiner Spitalverbunds Ente Ospedaliero Cantonale – untersucht Cavalli die das Herz betreffenden Formen dieser Erkrankung: eine Partnerschaft, die beweist, dass die Studien zur Strukturanalyse aus translationaler Sicht auch mit der klinischen Praxis eng verbunden sein können. «Zusammen mit Barile – betont Cavalli – testen wir einige potentielle therapeutische Moleküle an Kulturen von Kardiomyozyten (Herzzellen) der Patienten». 

NEURODEGENERATIVE ERKRANKUNGEN – Strukturelle Anomalien sind ausserdem die Ursache für nahezu alle neurodegenerativen Erkrankungen, wie z. B. Parkinson, Alzheimer und Prionenerkrankungen, bei denen sich Proteine bilden, die nicht mehr abgebaut werden können und daher dazu neigen, sich anzusammeln und abzuscheiden sowie Ablagerungen zu bilden.

So seltsam es auch erscheinen mag, in der dreidimensionalen Welt der Proteine und ihrer Störfaktoren gibt es noch sehr viel zu entdecken. Zusammen mit der Informatik bilden die Physik, Mathematik und Chemie den Schlüssel zu dieser Welt, der den Schlüssel der klassischen Biologie ergänzt und vervollständigt.