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Multiple Sklerose, immer «frühzeitigere» und gezieltere Therapien für jeden Patientenneuroscienze

Dienstag, 6. Juli 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

Gespräch mit Chiara Zecca, gemeinsam mit Claudio Gobbi Leiterin des MS-Zentrums des EOC. Es laufen verschiedene Untersuchungen zur Verbesserung der Lebensqualität der Kranken
von Michela Perrone

Sie betrifft vor allem Frauen, wird in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren diagnostiziert und macht heute etwas weniger Angst, vor allem, sofern die Diagnose frühzeitig gestellt wird: Werden die neuen Behandlungen von Anfang an angewendet, kann man sie unter Kontrolle halten, mit einer guten Lebensqualität und auch mit der Möglichkeit, trotz der Krankheit Mutter zu werden. Die Rede ist von der multiplen Sklerose, deren Diagnose bis vor wenigen Jahren mit der düsteren Aussicht verbunden war, an den Rollstuhl gefesselt zu sein. Heute ist das nicht mehr der Fall, sofern Diagnose und Therapiebeginn, wie bereits erwähnt, frühzeitig erfolgen.
Die multiple Sklerose gehört zu den Autoimmunkrankheiten, die also durch Fehler in unserem Immunsystem hervorgerufen werden, das (aus zum Teil noch ungeklärten Gründen) die Nervenzellen angreift und dadurch die aus einer Substanz namens Myelin bestehende Schutzschicht um die Axone (die Fortsätze der Nervenzellen) beschädigt. Diese Schäden behindern die Übertragung der Nervenimpulse, indem sie sie verlangsamen oder gar unterbinden. Die Folgen können von einem Patienten zum anderen stark variieren (ebenso wie die Schübe, in denen die Krankheit auftritt), aber in vielen Fällen gehen sie einher mit Behinderungen unterschiedlicher Art wie z.B. Seh- und Gleichgewichtsstörungen, Verlust der Muskelkraft in Beinen oder Armen, Darm- und Blasenproblemen. 

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Die Faktoren, welche die Autoimmunität auslösen, sind, wie bereits erwähnt, zum Teil unbekannt. «Auf jeden Fall gibt es eine genetische Prädisposition, verbunden mit Umweltfaktoren wie Zigarettenrauch, Vitamin-D-Mangel, Übergewicht im Jugendalter sowie eine Ansteckung mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber» – erklärt Chiara Zecca, Oberärztin für Neurologie am Neurocentro della Svizzera italiana. Das Pfeiffersche Drüsenfieber, auch unter dem Namen Kusskrankheit bekannt, weil es über den Speicheln übertragen wird, kommt im Kindes- und Jugendalter sehr häufig vor: «Fast alle MS-Patienten haben auch das Pfeiffersche Drüsenfieber gehabt», bekräftigt Doktor Zecca, die gemeinsam mit Claudio Gobbi auch das MS-Zentrum des EOC leitet. Viele Faktoren müssen wir noch entschlüsseln, und auch bezüglich der Mischung aus Genetik und Umweltursachen, die zum Auftreten der Krankheit führen, ist vieles noch ungeklärt.

DIE KLINISCHE FORSCHUNG - Chiara Zecca befasst sich mit der klinischen Forschung, die unmittelbarere Auswirkungen auf die Patienten hat. «Zwei der wichtigsten Themen, an denen wir in diesen Jahren arbeiten, sind die symptomatische Therapie, welche die bereits bestehenden Symptome der Krankheit lindert, und die Therapien, die den Krankheitsverlauf an sich beeinflussen.» Im ersten Fall hat Doktor Zecca untersucht, wie sich die sogenannten Techniken der Neuromodulation auf die multiple Sklerose anwenden lassen: «Der hintere Schienbeinnerv, der sich im Bereich des Knöchels befindet, wird elektrisch stimuliert – wie sie erläutert: Diese Impulse bewirken eine Verbesserung der Funktion und Koordination der Blasenmuskulatur und somit der Harnfunktion, was für mehr Lebensqualität der Patienten sorgt.»
Die gestörte Harnfunktion zählt zu den gängigsten Symptomen der Krankheit: Das Blasensystem funktioniert nicht mehr auf koordinierte Weise und bewirkt, dass die Patienten viel häufiger zur Toilette müssen oder häufiger an Harnwegsinfekten leiden. «Durch die Reduzierung der Frequenz und Intensität dieser Reize können die Patienten besser schlafen, das Haus verlassen sowie ohne Scham und Angst ein Berufs- und Familienleben führen und soziale Kontakte pflegen», wie die Expertin hinzufügt.
In diesem Augenblick untersucht Doktor Zeccas Gruppe ein neues implantierbares Gerät, das unter der Haut des Knöchels angebracht wird, um den Patienten eine eigenständige Stimulation zu ermöglichen: «Über eine von uns programmierte externe Fernbedienung – sagt sie – können die Betroffenen die Stimulation eigenständig vornehmen, ohne sich ans Krankenhaus wenden zu müssen.» 

Ein zweiter Forschungsansatz hingegen betrifft die Arzneimittel, die den Verlauf der Krankheit beeinflussen: «Seit jeher versuchen wir, die Therapien zu optimieren – erzählt Doktor Zecca. – Das tun wir auch mit den seit einigen Jahren verfügbaren monoklonalen Antikörpern, intelligenten Arzneimitteln, die das Immunsystem selektiv treffen, beispielsweise die B-Lymphozyten, die mit der multiplen Sklerose zu tun haben.»
Die meisten Medikamente, die den Verlauf der multiplen Sklerose beeinflussen, sind Immunsuppressiva und können das Infektionsrisiko erhöhen, meist je höher die Dosierung oder je länger die Behandlung, desto mehr. Zecca und ihre Kollegen untersuchen die Biomarker, um die Mindestdosis des Arzneimittels zu bestimmen, die ein Patient bekommen darf, damit sie wirkungsvoll sind und gleichzeitig die Risiken minimieren. «Im Hinblick auf eine personalisierte Medizin – erklärt sie – versuchen wir, für jeden Patienten die beste Behandlung mit der passenden Dosis zu finden. Die klinischen Studien liefern wichtige Hinweise über die Sicherheit und Wirksamkeit der Moleküle, aber die Personalisierung kann nur in der realen Welt erfolgen.» 

MULTIPLE SKLEROSE UND SCHWANGERSCHAFT - Von multipler Sklerose sind Frauen dreimal so häufig betroffen wie Männer. «Es ist eine Krankheit, die auch mit den Sexualhormonen zusammenhängt: Tatsächlich ändert sich ihr Verlauf in Menopause und Schwangerschaft.» Bis vor zwanzig Jahren wurde von einer Schwangerschaft abgeraten, heute können aber von MS Betroffene eine Familie gründen. Die Schwangerschaft als solche bietet Schutz, aber in der Post-Partum-Phase macht sich die multiple Sklerose in der Regel wieder bemerkbar. «Mit der Zunahme an Behandlungsmöglichkeiten – so Doktor Zecca – haben wir diese heikle Lebensphase der von MS betroffenen Frau heute besser im Griff.» Die aktuellen Therapien sind so flexibel, dass sie nach und in ganz besonders schweren Fällen auch während der Schwangerschaft eingesetzt werden können, ohne grössere Auswirkungen auf das Kind nach sich zu ziehen.

Und was kann man zur genetischen Komponente sagen? «Es handelt sich um eine Prädisposition, aber es bedeutet keineswegs, dass das Kind die Krankheit bekommt, weil die Mutter multiple Sklerose hat – erläutert die Neurologin. – Im Gegenteil: Die familiären Formen sind eher selten und das Zusatzrisiko, dass die Mutter die Krankheit überträgt, ist wirklich minimal. Man kann eher an den Umweltfaktoren ansetzen und beispielsweise vermeiden, dass das Kind im Jugendalter zu rauchen beginnt, man kann den Vitamin-D-Spiegel überwachen und Übergewicht verhindern.»
Was die Genetik anbelangt, sollten wir also besser dort ansetzen, was wir heute wirklich verändern können.

Auf dem Foto der Agentur Shutterstock eine computerbasierte Rekonstruktion des Vorgangs, mit dem die Zellen des Immunsystems (gelb) die Axone (Fortsätze) der Nervenzellen beschädigen

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